Die Kraft der Erfindung

Deutscher Buchpreis Ist Antje Rávik Strubel mit ihrem Roman „Blaue Frau“ eine Favoritin? Unser Autor ist überzeugt
Ausgabe 41/2021

Schon seit einiger Zeit hat es nichts Neues von Antje Rávik Strubel gegeben. Die 1974 in Potsdam geborene Schriftstellerin fiel 2004 mit ihrem Roman Tupolew 134 über eine Flugzeugentführung durch DDR-Bürger von Gdansk nach Westberlin auf. Strubel (ihr Zwischenname Rávik ist erfunden) zählt aber schon lange zu den sehr poetischen Autor*innen deutscher Sprache. Ob es das ist, was die Juror*innen und die, die sie berufen, für den Deutschen Buchpreis 2021 wollen, oder eher die „Schnelldreher“ für die Buchhandlungen, werden wir am 18. Oktober bei der Preisverleihung erfahren. Was gedankliche wie poetische Kraft betrifft, ist Blaue Frau so schnell von keinem der fünf Konkurrenten zu schlagen.

Der Roman spielt zu großen Teilen in Helsinki. Das hat seinen Grund: Dort lebte Strubel während eines Studienaufenthalts, und dort erfuhr sie, dass Finnland von seiner jüngeren Vergangenheit her als ein Scharnier zwischen Ost und West gelten darf. Vielleicht wohnt die Erzählerin deshalb auch in einer ostigen Plattenbausiedlung im westlichen Helsinki. Aber es gibt auch andere Schauplätze: Die Hauptfigur Adina wuchs in Tschechien auf, geht zur Vorbereitung aufs Studium nach Berlin und nimmt ein Praktikum in der Uckermark an, bevor sie nach Helsinki wechselt. In der Uckermark ist etwas geschehen, was sie zutiefst verstört. Lange spricht der Roman es nicht aus, schafft aber die Ahnung von einer Vergewaltigung. Die will Adina in Helsinki anzeigen: „Aber sie kann nicht einfach zum Gerichtsgebäude gehen und anklopfen. Sie ist in einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht. Sie weiß nicht, an wen man sich wendet.“

An jedem Schauplatz treten wichtige Figuren in Adinas Leben und in den Roman ein: Rickie, die übergriffige Fotografin aus Berlin, die in ihr den letzten Mohikaner entdeckt und fotografiert, Razvan Stein, der in der Uckermark ein Kulturzentrum aufbauen will und dafür einen dubiosen Geldgeber ködert, und Leonides, ein Este, der in Helsinki Uni-Professor und in Brüssel Europa-Abgeordneter ist.

Alle Figuren und ihr Verhalten Adina gegenüber haben etwas damit zu tun, dass die junge Frau aus Mittelosteuropa kommt. Zum einen ist es eine Geringschätzung – am schlimmsten die ihres Vergewaltigers –, zum anderen das Bemühen, ihr zu helfen. Leonides erlöst Adina aus ihrer versteckten Existenz in einem Hotel in Helsinki, wo sie für wenig Geld Hilfsarbeiten verrichtet und in einem Abstellraum kampiert hat. Er nimmt sie mit in sein Uni-Gästehaus und auch zu politischen Empfängen. Dabei stößt Adina zufällig auf ihren Vergewaltiger, einen Deutschen. Sie erkennt ihn an seinem Räuspern.

Mit einem Mal spitzt sich die Romanhandlung zu. Die Schriftstellerin, die sich im Roman als Antje Rávik Strubel zu erkennen gibt, und die geheimnisvolle blaue Frau erwägen Adinas Handlungsmöglichkeiten: Wird sie ihren Peiniger anzeigen, wird sie es unterlassen, weil es keine Sicherheit gibt, dass ein Gericht einer Frau wegen erlittener sexueller Gewalt beisteht, wird sie Selbstjustiz üben? Gewalt, entgegnet die Schriftstellerin, werde über Generationen hinweg vererbt. Die Wissenschaft habe dafür Beweise. Für die blaue Frau ist etwas anderes wesentlicher: ob Sehnsucht ebenfalls vererbbar sei.

Debatte über Menschenrechte

Blaue Frau ist ein großartiger Roman, der die Wunde der Vereinigung zwischen Ost und West offenlegt, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa. Wozu weiterführend auch gehört, dass Frauen immer noch Objekte einer Männerwelt sind. Antje Rávik Strubel schont die Form des Romans letztlich nicht, um sich in die politische Debatte über Menschenrechte – Mann und Frau, Westeuropäer und Mittelosteuropäer – einzumischen. Sie lässt Leonides eine entscheidende Feststellung machen: „Wir haben zwei Realitäten innerhalb der EU!“

Obwohl die Autorin sehr viel Klartext spricht – das aber in ausgefeilter Sprache –, liegt auf der poetischen Seite des Romans einiger Nebel. Wer ist die blaue Frau, wie endet der Roman? Nun sollte vollständige Auflösung von Literatur nicht verlangt werden, aber in Antje Rávik Strubels Roman stecken etwas viele Andeutungen. Acht Jahre des Schreibens an ihrem Roman haben eine sehr komplexe Welt aus Fiktion und Realität geschaffen. In jedem Satz scheint ein Häkchen zu stecken, das zu einem anderen Häkchen irgendwo im Roman passt. Am Ende ist die blaue Frau als Kunstfigur das poetische Double der Erzählerin. Denn heißt es nicht im Roman: Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten? Vielleicht.

Trotz Antje Rávik Strubels deutlicher Kritik an realen Verhältnissen in Europa sind am Ende alle Figuren ihre Erfindungen. Ihre Geschichten sind es garantiert nicht. Ungeachtet dieser leisen Einwendungen ist Blaue Frau von Antje Rávik Strubel ein sprachlich und von der Kraft der Erfindung her großartiger Roman, der erste Chancen auf den Deutschen Buchpreis haben sollte.

Info

Blaue Frau Antje Rávik Strubel S. Fischer 2021, 432 S., 24 € Am 18. Oktober wird der Deutsche Buchpreis auf der Frankfurter Buchmesse vergeben

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