Ein Fall für Rom

Kirche Josef Haslingers Buch über seinen Missbrauch im Kloster ist keine Hexenjagd
Ausgabe 06/2020
Beim Thema Kindesmissbrauch sucht die Kirche gern das Weite, übt sich am ehesten im Täterschutz
Beim Thema Kindesmissbrauch sucht die Kirche gern das Weite, übt sich am ehesten im Täterschutz

Foto: Andreas Solaro/AFP/Getty Images

Einen Namen machte sich Josef Haslinger in den 1990ern mit dem Roman Opernball. 1955 in Zwettl in Niederösterreich geboren, ist er seit 1996 Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Dass er als Kind Priester werden sollte und als Schüler im Sängerknabenkonvikt Stift Zwettl lebte, spielte eine Rolle, als Haslinger sich vor zehn Jahren in der Literarischen Welt unter der Überschrift „Jetzt bloß keine Hexenjagd“ zum Thema Gewalt und Missbrauch in der Kirche äußerte. Er outete sich als Betroffener, ohne nähere Angaben zu machen oder Namen von Tätern zu nennen. An einem Ort, an dem „das ständige Erniedrigtwerden bis hin zur allgegenwärtigen körperlichen Züchtigung“ zum Alltag gehört habe, seien pädosexuelle Geistliche „eine Oase der Zärtlichkeit“ gewesen, schrieb er auch. Daraufhin wurde Haslinger scharf angegriffen. Er sei ein Verharmloser. Er habe sich mit den Tätern identifiziert.

Der Schüler stürzte in den Tod

Erst jetzt, zehn Jahre später, fällt kurz vor Ende seines gut 140-seitigen Versuchs Mein Fall ein Satz über die Täter: Sie seien „nur eine ganz kleine Gruppe, aber eine, die mir meine Kindheit versaute“. Zwischen Verständnis und Anklage bewegt sich Haslinger in seinem Buch. Im Ton sehr ruhig gehalten, ohne die Spur von Selbstgerechtigkeit, geht der Text über den eigenen Fall hinaus. Der Text sagt „Ich“ und lässt den Leser wissen, was seinem Autor im Stift Zwettl geschehen ist, aber er lässt sich generell ein auf den öffentlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch im Amtsbereich der Kirche. Es geht nicht nur darum, aufzudecken, was einem Einzelnen geschehen ist, sondern wie und warum er es in seiner tatsächlichen Bedeutung vor sich weitgehend versteckt hat. Das Buch kämpft sich zur eigenen Wahrheit vor. Der Leser spürt die Kraftanstrengung, die es Haslinger bedeutet haben dürfte, sich bis zu diesem Satz vorzuarbeiten: Sie haben mir meine Kindheit versaut.

Haslinger hat diesen Lebensstoff auch schon in Erzählungen verarbeitet. Zuletzt in Im Spielsaal, die im vergangenen Herbst im Prosa-Band Child in Time (Faber und Faber) erschien. In dieser Geschichte bleibt der eigentliche Vorgang verdeckt. Zwar fällt bereits ein Name, erzählt wird von einem Pater Gottfried, aber was genau er den Kindern antut, bleibt Andeutung. Der Ich-Erzähler geht einem Mitschüler nach, mit dem sich der Pater aus dem Spielsaal entfernt. Als er ihn später in einem Raum, der eben noch verschlossen war, antrifft, wird er weggeschickt. Wenig später ist der Schüler aus dem Internat verschwunden. „Seit ich ihm nachgeschlichen war, wusste er, dass wir beide in dieselbe Sache verstrickt waren“, schreibt Haslinger

Ein halbes Jahr später kommt der Schüler bei einem Sturz von einem Berg ums Leben. Die genaueren Umstände bleiben im Unklaren. Doch der plötzliche Tod des aus dem Stift entfernten Mitschülers erscheint jetzt noch einmal in Mein Fall, hier aber bereits verbunden mit der Mutmaßung, es könne sich um einen Suizid gehandelt haben.

Josef Haslinger macht dem Leser plausibel, dass ihn – der sich äußerlich unverwundet zeigt – das Geschehen im Internat nie losgelassen hat. Aus Rücksicht auf die damals noch lebenden Täter und aus seinem ungeklärten Gefühl eigener Mitschuld wollte und konnte er nicht darüber sprechen. Den Weg in die Öffentlichkeit geht der Autor erst, als der letzte seiner pädophilen Peiniger – es waren insgesamt drei – nicht mehr am Leben ist.

Im Wissen, keine Person mehr an den Pranger zu stellen, sondern beizutragen, den Defekt der Kirche als Folge systemisch unterdrückter Sexualität zu lokalisieren, wandte sich Haslinger Ende 2018 an die Unabhängige Opferschutzanwaltschaft in Wien. Von dort wird er weitergereicht zur Unabhängigen Opferschutzkommission und schließlich zum Ombudsmann. Dieser schließt die Anhörung mit dem Wunsch, dass Herr Haslinger, weil er doch Schriftsteller sei, seinen Fall bitte schön selbst aufschreiben möge.

Verstehen? Sogar verzeihen?

An dieser Stelle wird der Sühneversuch von sexuellem Missbrauch zum Bericht an eine Behörde. Und fragwürdig. Haslinger versucht, den „behördlichen“ Auftrag zur Dokumentation mit dem Buch Mein Fall einzulösen. Daraus wird bei einem Schriftsteller vom Range Haslingers mehr als eine Dokumentation. Der eigentlich nicht erzählende Text erhält durch die geschilderte Ich-Erfahrung doch viel Erzählerisches. Die Gänge in die Behörden, die Gebäude, in denen sie residieren, die Ausdeutung des jeweiligen Gegenübers, persönliche Befangenheiten – alles fließt ein. Die erste Anhörerin seiner Geschichte ist eine Frau Dr. Brigitte Bierlein, damals Verfassungsrichterin und nach dem Debakel der ÖVP-FPÖ-Koalition für ein paar Monate Österreichs erste Bundeskanzlerin. Es entsteht viel mehr als eine Dokumentation, weil dem Autor beim Scheiben bewusst wird, dass er erst den Schutzverband verharmlosender Argumente abreißen muss, bevor er seine Verletzungen wirklich spürt. Wenn Haslinger an sich Momente einer Identifikation mit den Tätern feststellt, steigert das Buch noch einmal seine Wirkung, denn hier berührt es ethische Fragen nach den Grenzen von Verstehen und Verzeihen.

Die Kirche verspricht Kommissionen zur Aufarbeitung, bleibt aber viel zu oft dem Täterschutz verhaftet. Täter werden durch Versetzungen vor juristischem Zugriff geschützt und das von den Opfern Erlittene wird oft marginalisiert. Die Debatte über Gewalt und sexuellen Missbrauch in der Kirche liegt deutlich hörbar unter Haslingers Selbstoffenbarung. Sein „Fall“ ist der Fall der Kirche. Sicher keine Hexenjagd.

Info

Mein Fall Josef Haslinger S. Fischer 2020, 144 S., 20 €

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