Es gibt Menschen, die frieren leicht. Anderen ist selbst bei Eis und Schnee niemals kalt, und sie haben fast immer warme Hände. Das mag am Blutdruck liegen. Mit niedrigem Blutdruck friert man schneller, heißt es. In guter Literatur scheidet diese Erklärung aus. Für Roswitha Harings adoleszente Ich-Erzählerin aus der Novelle Ein Bett aus Schnee gelten andere Gründe. Sie friert in der Stadt, in der sie mit den Eltern lebt, sie friert, als sie bei Onkel und Tante im Gebirge zu Besuch ist, sie friert auch später noch, wenn sie eine junge Frau ist und Sex hat: "... denn immer wenn wir liegen und Sex haben, huscht über meinen Körper ein Hauch kalter Luft".
Wenn das Mädchen, das keinen Namen trägt, aus der Kälte nach Hause kommt, legt sie meist zuerst die Füße an den Kachelofen und wärmt sich. An Sonntagmorgenden kriecht sie zu den Eltern ins Bett, um sich zu wärmen. Dann brechen die Eltern ihre Gespräche ab. Reden nicht mehr von den Verwandten, die aus der Familie verschwunden sind. Stille breitet sich aus.
Stille ist - neben der Kälte - das zweite bestimmende Moment für die Novelle. Nicht, dass immer Stille wäre. Der Onkel erzählt gern und laut Witze, über die alle in der Familie lachen müssen, wenn die Pointe fällt. Aber die Ich-Erzählerin hört dem Onkel nur aus der Ferne zu. Sie liegt bereits im Bett oder man hat sie im Wohnzimmer zurückgelassen, damit sie die Witze nicht hören kann.
Aus Kälte und Stille ist die Atmosphäre dieser Novelle gebaut. So zum Mitfrieren und Mitschweigen, dass man als Leser ein Geheimnis oder eine drohende Katastrophe ahnt, noch bevor überhaupt irgendetwas geschieht, was von einer Novelle sprechen lässt. Eigentlich geschieht auch nichts. Dafür enthüllt sich etwas Zurückliegendes. Ein sexueller Missbrauch einer Schwester durch den Onkel. Ein anderer Onkel als jener, den das Mädchen im Gebirge besucht und der so gern Witze erzählt. Die Mutter hat zwei Brüder.
Dieser dunkle Teil der Familiengeschichte, in den der Leser ausschließlich aus der Optik der Ich-Erzählerin Einblick gewinnt, ist zum Nucleus eines Eisklumpens geworden. Der Onkel hat alles abgestritten, Aussage stand gegen Aussage. Weil ihm mit der Wahrheit nicht beizukommen war, hat man - scheint es - in der Familie die bitterböse Geschichte eingefroren. Von diesem Eisklumpen geht die Kälte aus, die die Ich-Erzählerin schutzlos erreicht, obschon sie im Sinne der Tat nicht das Opfer war. Kindheitsmuster bekommen Kratzspuren. Der einzige Zeitsprung des Erzählens liegt vor den letzten drei Seiten der Novelle und lässt ahnen, was für die junge Frau begonnen hat: das Martyrium misslingender Partnerbeziehungen: Wer beim Sex nur die Gardinen betrachtet, fragt sich schnell "...vielleicht mache ich etwas falsch".
Roswitha Haring erzählt nicht vom sexuellen Missbrauch - und erspart sich die Frage, wie sie diesem Thema etwas Neues abgewinnt -, sondern sie erzählt eine Familiengeschichte, in der solches passiert ist und nichts dagegen unternommen werden konnte. Vielleicht deshalb nicht, weil man in der DDR - die als kalter und stiller Hintergrund des Erzählten merkbar wird - keine Möglichkeiten sah, laut Alarm zu schlagen. Die Wahrheit der Geschichten gehört den Autoritäten, die aus ihnen Geheimnisse machen, die die Unschuldigen beschweren, bis auch sie schweigen. In solcher Sicht gelingt Roswitha Haring eines der subtilsten Bilder der gewesenen DDR in der Nachwende-Literatur. Nichts verharmlosend, nichts politisch aufbauschend. Auf höchst artifizielle Weise wird ausreichend bewahrt, dass die Geschichte nicht allein der DDR zuzuschreiben ist. Auch anderswo schlagen Missbrauch-Betroffene selten laut Alarm. Nur, so wie hier erzählt wird, hat sich diese Geschichte in einer namenlosen Stadt der DDR ereignet, die Leipzig heißen könnte, weil von einem Vorort Markkleeberg die Rede ist, von einer Entfernung ins Gebirge, die - wenn es das Erzgebirge ist - für Leipzig stimmt. Dort ist Roswitha Haring 1960 geboren, hat dort in den 80er Jahren Kulturwissenschaft studiert, ist 1989 von der Stadt aufgebrochen und nach Köln in den Job der Sekretärin bei einer Tageszeitung gegangen. Die DDR hängt Roswitha Harings eigenem Leben an und so ist es nur Folge der Genauigkeit ihres Erzählens, dass sie ins Bild kommt und in diese Familiennovelle hineinstrahlt, ohne einzugreifen: als stiller und kalter Ort.
Dass Egon Ammann in der Schweiz diesen Debüttext, der wie weiland bei Robert Schneiders "Schlafes Bruder" zweiundzwanzig Verlagen durch die Post gerutscht ist, ins Programm aufgenommen hat, ist ein verlegerisches Verdienst. Der erste Verdienst gebührt der literarischen Kraft von Roswitha Haring, die vor dieser Novelle einzig eine Handvoll Kurzgeschichten und Erzählungen verfasst hatte und plötzlich mit ihrem ersten Buch vor uns steht, dass man als Leser selbst ganz still wird. Um ihn nicht zu verpassen: den ganz eigenen Ton dieses Erzählens, der - anders als bei Judith Herrmanns Gespenstergeschichten - nicht zweifeln lässt, ob die stille Melancholie Maske ist oder lebendiger Klang.
Roswitha Haring: Ein Bett aus Schnee. Ammann, Zürich 2003, 180 S., 17,90 EUR
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