„Wann hat der Schlamassel begonnen?“, fragte Ingo Schulze kürzlich in einem sehr lesenswerten Essay für die Süddeutsche Zeitung anlässlich des Ukraine-Konflikts. „Man müsste bis 1990 zurückgehen, die Auflösung des einen Militärbündnisses und das Erstarken des anderen. Eben noch gehörten wir Ostdeutschen zum Warschauer Vertrag, plötzlich waren wir Mitglied der Nato. Es ging so schnell, dass es nicht mal eine öffentliche Diskussion darüber gab“, erinnert sich Schulze und fragt weiter, inwiefern ein Krieg von westlicher Seite jetzt auch herbeigeredet werde.
Verständnis für die russische Seite findet sich auch in einem Text aus seinem neuen Essayband. Schulze ist dabei, als die Lyrikerin Elena Zaslavskaja 2015 auf einer Tagung in Charkiw die Volksrepublik Luhansk, ein nicht anerkanntes prorussisches Separatistengebiet, verteidigt und die Situation auf der Tagung zu eskalieren droht – und das zu einer Zeit, als nach der Krim-Annexion die bedrohliche Lage in der Ukraine zum Greifen ist. In seiner damaligen Rede hebt Schulze die Aggressionen auf beiden Seiten hervor, plädiert für Deeskalation und für den Dialog.
Selbstverständlichkeiten?
Wann hat der Schlamassel begonnen? Schon in seinem Essayband Was wollen wir? (Piper 2009) hat Ingo Schulze gezeigt, dass er neben Kurt Drawert und Thomas Hettche zu den wichtigsten Fragenstellern unter Deutschlands Schriftstellern gehört. Das machte gespannt auf die neue Sammlung mit dem Titel Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte ... – ein Titel zwar, der die Dialektik arg strapaziert, denn mitgedacht vom Autor ist, welch böse Entdeckung mit Kolumbus’ Erscheinen bevorstand: Sklavenhandel großen Stils und Kolonialismus.
Der 1962 gebürtige Dresdner ist ein umtriebiger Autor, der sich nicht auf Romane und Erzählungen begrenzt. Hier die Rede auf einer Tagung, wie in Charkiw, dort eine Laudatio auf einen Kollegen, da ein Artikel. Schulze versteht diese Gelegenheitstexte als Wortmeldungen gegen Selbstverständlichkeiten. Die rund 40 größeren und kleinen Essays zeigen, dass im Angriff gegen den Status quo ein Grundmotiv seines essayistischen Schreibens liegt. Essays, meinte Thomas Mann, seien ihm eine wichtige Ausdrucksform, um die poetischen Werke von politischen Statements freizuhalten. Ein berechtigter Standpunkt bis heute, dem Schulze für eine kritische Kommentierung der Gegenwart folgt. Doch es sind zwei große Themen, die seine neue Sammlung vereint: dem Nachdenken über Politik geht die Beschäftigung mit dem eigenen Metier, der Literatur, voraus.
Er schreibt über Schriftstellerkollegen, darunter Wilhelm Raabe, Johannes Bobrowski, John Steinbeck und Dzevad Karahasan. Für sein Sprechen über Raabes Novelle Der wilde Mann wählt er geschickt die Form einer Erzählung, in der er als Literaturdozent die Hauptrolle spielt. Eine Studentin zieht ihm den historischen Interpretations-Boden unter den Füßen weg und verlängert den Text klug ins Aktuelle. In einem anderen Text führt er mit dem Bosnier Karahasan ein Gespräch, in dem beide einen Grundzug aller Poesie verteidigen, nämlich dass das Schreiben nicht vorgefassten Absichten folgen sollte.
Erst im zweiten Teil des Buches mischt er sich in die Politik ein, dann aber kräftig. Er kritisiert Angela Merkels Begriff der „marktkonformen Demokratie“. Immer wieder sucht er Belege dafür, dass der Demokratie als Volksherrschaft diese Form widerspricht. Mit der marktkonformen Demokratie verteidigt die Politik das Kapital, schreibt er. Ihm entgeht nicht die unter dem Mantel der Ökonomie versteckte Seite bundesdeutscher Umweltpolitik. Unser Stolz auf blühende Landschaften hat auch eine Kehrseite, schreibt er: „Ja, wir haben blühende Landschaften, weil wir unsere alten Dreckschleudern stillgelegt und verschrottet oder verkauft haben. Wir müssen den Dreck nicht mehr selbst schlucken, unseren Dreck, das können wir uns leisten, schlucken jetzt andere. Unsere Lebenserwartung ist deshalb auch höher, und wenn man wohlhabend ist, ist sie abermals um einiges höher.“ Angesichts des Umstands, dass wir von den unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Armen und Ärmsten dieser Welt profitieren, schlägt er eine Provenienzforschung für unseren Konsum vor. Sie brächte uns in peinlichste Erklärungsnöte. Schulze lässt die Frage nicht aus: Leben wir so gut, weil die anderen so schlecht leben?
Das Phänomen von ’89
In seinem Schelmenroman Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst (Fischer 2017) spielt Geld eine Hauptrolle, als CDU-Mitglied (Ost) kämpft Holtz gar für eine christlich-kommunistische Demokratie, in den Essays kehrt Schulze mehrfach zum Thema Geld zurück. Er fürchtet die Erfahrung, dass ihn nichts mehr mit der Welt verbindet als das Geld. Diesem Zustand, in dem alles durch Geld im Guten wie im Bösen verfügbar und machbar ist, sieht er sich nach dem Ende der DDR ausgesetzt. 2014 hält er vor den Linken in Erfurt eine Rede, die fast einer Kampfansage gleicht: „Wenn ich heute einen neuen Grundwiderspruch des Kapitalismus benennen sollte, ohne den bisherigen als überwunden anzusehen, denn würde ich ihn vielleicht als das Phänomen von ’89 bezeichnen: Sich als unangefochtenen Sieger der Geschichte zu begreifen, obwohl auf der ganzen Erde unhaltbare Zustände produziert werden.“
Was Ingo Schulzes Essays empfiehlt, ist die Klarheit der Sprache, seine Differenziertheit und das imponierende Hintergrundwissen, auf dem sein Denken steht. Er ist derzeit eine der profundesten kritischen Stimmen – was in seiner neuen Essaysammlung nachzulesen ist.
Info
Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte ... Ingo Schulze S. Fischer Verlag 2022, 320 S., 24 €
Kommentare 8
Kritisch sein. Wowwww. Das musste mal gesagt werden.
Möge der Status Quo, wo auch immer er sich in welchem Gewand zeigt, nicht seinen Verletzungen erliegen, die er durch die Attacken des Herrn Schulze zugefügt bekommen hat.
Denn: was wären wir ohne einen Status Quo? Niemande im Nichts.
- über den umfang und die jahrtausende der sklaven-haltung hat nicht
nur michael zeuske aufgeklärt*.
- gerade in deutschland, das im kriege über 10 millionen
zwangs-arbeiter ausnutzte, sollte klar-heit über sklaverei und
dieser nahestehenden vertrags-arbeiten herrschen.
* links folgen
Geschichte ist ein Fluß mit Staustufen und Stromschnellen, kein status quo. Man könnte die Befindlichkeit des Flusses an der Stelle, an der sich der Einzelne im Fluß befindet, als den Metastatusquo bezeichnen. Das ist aber zu hoch für die Denkzone der Schlichten. Es gibt hinsichtlich dieses Metastatus eine Zeit der trägen Ereignislosigkeit, eine Zeit, in der beschleunigt, und auch eine, in der gebremst werden muß, weil wir in den Wirren einer zu starken Akzeleration unterzugehen drohen.
Ingo Schulze hat jedoch mit seinen Diagnosen recht, wir bedürfen ihrer mehr denn je. Dem Flußdampfer sind Steuerrad und Dampfkraft fixiert worden, dieses Weiterso führt schnurstracks in die Katastrophe, wir müssen mit der Kritik unserer Vernunft eingreifen, wenn wir nicht kentern wollen.
herr endemann und die geschichte....
da wo der seinen fuß in den fluß setzt, gibts vor allem eines:
turbulenzen !
von kehr-wasser und verdunstung nicht zu reden:
(gedanken-) flüsse gibts nicht nur kontaminiert,
sie können auch versanden...
Wow, cool, dumm nur, daß die meisten Schriftsteller irgendwie nie was veröffentlichen und die Jahrgang 62 das erst schaffen richtig zu schreiben, wenn sie 80 sind - live fast, die young oder so.
Vielleicht kann man ihn ja mal fragen, was er davon hält, daß der homophobe und rassistische Mr. Tesla nur deshalb Grünau zerstört, weil in good old antiracist Amerikkka das Koltan aus dem Kongo verboten ist und wieviel Millionen Menschen denn jetzt bald auch noch zusätzlich für seinen völlig überflüssigen digitalen Fortschrott durch seine ach so tollen "autonomen" Kinderwagen geopfert werden dürfen.
Aber jetzt die Bewerbung für den russisch-ukrainischen Nobelpreis:
"Donbass and Crimea to Greece!
Peace!"
Es gibt nämlich gar keine Krimrussen und es gibt auch keine Krimukrainer, aber die Krimtataren haben die Krimgriechen von der Krim vertrieben, Griechen leben deshalb im Donbass und in und um Marianopolis (Mariupol).
Es sind mind. 90.000, die sich bereits 2014 gegen beide Seiten mit Barrikaden verteidigen mußten und dann wohl bald an die Küste flüchten müssen, darauf hoffend, daß Ankara griechische Schiffe den Bosporus passieren lässt (Ägäisfähren haben dafür gar keine Lizenz! Echt DUMM, jetzt) oder selber mit Schiffen hilft; Kiev wirds ja nicht machen ("unsere Bürger"), also wird dann wohl auch Moskau helfen; Griechenland verläßt währenddessen dann sehr schnell die NATO und die Türkei überfällt dann -wie seit Jahren angekündigt und geplant- Griechenland, denn wenn die Russen böse sind mit brutal-vielen 400 Luftraumverletzungen, können die jährlich 1400, die die Türkei sich raus nimmt, ja gar nicht so falsch sein.
Es gibt also offensichtlich nicht nur zwei Seiten, aber wieso überhaupt zwei Seiten im Konflikt um ehemalige Kornkammern?
Ist dieses immer nur zwei Seitendings etwa das Ergebnis von Konditionierung durch Fußballfanatikertum oder durch ständiges Reiben an Münzen?
Langweilig!
Ich mein, vorm Euro war das doch abwechslungsreicher und vor allem Urlauberkinder hat das richtig Spasz und neugierig gemacht,... die Peseten, Lire und Drahma und eigentlich ginge das ja auch mit Euromünzen, aber im Fernsehen sind se alle bekloppt, wir werden halt nur von Idioten regiert, aber das ist ja auch nur was für (machtgeile) Idioten, eine Regierung braucht ja eh keiner.
Abgesehen davon, daß --ähnlich wie in Jugoslawien-- bewaffnete Minderheiten den absoluten Mehrheiten dort ihre nazionalistische Drecksagenda aufzwingen wie die deutschen, meist russophoben und vor allen Dingen zu 90% antihellenistischen Hetzmedien wie das Gedöns um völlig überflüssige Nazionalmannschaften; in Wahrheit ist ja auch Griechenland viel besser als Deutschland, denn da leben ja viel weniger Menschen, na ja, bei der Musik braucht man gar nicht mal die Bevölkerungszahlen vergleichen, in Hellas gibts mindestens 500 richtig gute Punk- und Hardcorebands, in Deutschland, wenns hoch kommt, nich mal 50 und davon sind die meisten auch nur Hobby und einen eigenen Sound haben davon die wenigstens, Klone. Außerdem hat dort auch jedes zweite Dorf und Insel einen eigenen Sound, das kulturlose Deutschland hat außerhalb von Bayern nicht mal eigene Musik, kopiert nur extrem schlecht Terror und Schrott aus Amerika.
Mit erwähnten Kolumbus allerdings verhält es sich enttäuschenderweise, echt, leider völlig anders:
Gut getarnte Indianer beobachten, wie Anhänger eines nicht zuständigen Gottes, der nicht mal wußte, daß überhaupt Amerika -sogar mit eigenen "Göttern"- existierte, ihre riesigen Kanus ankerten und äusserten sich rein menschlich äusserst besorgt darüber, daß es "vermessen wäre, zu erwarten, daß das Entsorgen von nach Kloake stinkenden Degenerierten und Kriminellen an ihren Küsten keinen negativen Einfluß auf ihr Land haben werde"
So oder so ähnlich war das mal als Sprechblasen in einer Karikatur in der Taz vor 30 Jahren.
Was wird das? Der neue Wolfgang Pohrt?
Ein zugegebenermaßen launiger Post.
Freilich: was haben Ihre Wortkaskaden mit Ingo Schulze, dem Status quo und Kritsch Sein (der vorliegende Kontext) zu tun?
Ich frage einfach mal so ...
Mahlzeit zum drohenden Völkermord an den Krimgriechen!
Keine Ahnung, wir müssen das "erstmal in der Gruppe ausdiskutieren"
Die Lesehilfen von Plus, die früher jahrelang hielten, gehen langsam ins Geld, gehen inzwischen alle paar Wochen, mal Tage unflickbar kaputt, genau wie Bettlaken und Socken von Allklauf, der Beschiss lauert überall im kapitalistischen Chaos und Demokratie gibts ja eh nicht, außer als das perfekte Verbrechen, denn demokratisch gesehen, sind ja die Menschen, die kein Handy haben -sprich das Proletariat- die Mehrheit; leider werden sie vom Staat an sich, bzw. von der Mafia aller Staaten zusammen, die sich gerne zum Plärrum auf "Stolen Land" (Die Insel der Lenape "Manhattan") triff,t in Nazionen aufgespalten (Teile und Herrsche).
Aber ich geb die Frage gerne mal an unseren Sätzer Adolf Märklin weiter: "Ähm, blühende Landschaften wird es erst dann wieder geben, wenn die "Wälder" -die zu 98% eigentlich Parks sind- wieder Wälder voller gemütlicher Lichtungen und Teiche sind und die Landwirtschaft endlich die Bienen wieder Bienen sein läßt" (Vor allem "Honigbienen" in Amerika gehören da garnicht hin, aber die Finanzierung für das Amerika nach dem Ende der USA (das Osmanische Reich des Abendlandes) steht:
Die imperialistische Ubelbevölkerung bezahlt gefälligst Lizenzen für Kartoffeln, Mais, Tabak, Tomaten, Paprika usw., sogar Kürbis, den gabs zwar auch in Europa, der wurde aber irgendwie nach dem Altertum wieder vergessen.
Lektor Kätzerin mischt sich ein:
"Nein, das stimmt so nicht ganz, es gab gestern Freigetränke in Form von Supermollis, ein obskures Gemisch aus Bergtee, Wasser, Apfelsaft und der besten Cola überhaupt -Rivercola- aber vorher als Highway zum Sanitärbereich des Campingplatzes auf Imia (unabhängige Historikerkonferenz "Kardak") einen doppelten griechischtürkischen Kaffee, als Zucker nach feinster Souvlakimafiaart feingeraspeltes Knoblauch (wichtig, damit es richtig knallt, darf das braune Zeug aus dem Knoblauch nicht entfernt werden und noch viel wichtiger: niemals Bio, denn der törnt nix) und ausserdem lief die ganze Zeit gegen die Asonachbarn Status Quo auf 45"
Im Sanitärbereich der Frauen stand an der Wand: "Wir wünschen Ihnen noch ein schönes Loch am Ende" und "Bei Risiken und Nebenwirkungen erschiessen Sie Ihren Arzt oder Apotheker" also hier sind wohl nur noch Prolls am Start, ich muß ma schaun gehen, was bei die Männer steht, uiii.
Leider keine Fotos möglich, außer wenn die Negative abgeben werden...Zum Glück ist hier antirassistische Zone, deshalb sind hier Händys und andere Produkte von Völkermord verboten.
Nun ja, dummerweise hatte Biden ja nicht verstanden, daß Putin niemals einen Krieg anfangen wird, solange Rußland nicht aus den Playoffs im olympischen Eishockeyturnier fliegt und da sie jetzt die Silbermedaille gewonnen haben, ist eh erstmal Party.
Wir haben gerade beschlossen, daß wir dort mit Panda Bassotti und den United States Of Balkans auf Tour gehen -vielleicht kommen Schleim "Ich kann die Elbe nicht mehr sehen" und die Beton Kombo noch dazu, eh egol- und da die Anfahrt ewig dauern wird, müssen wir vorher auch keine Instrumente können, das lernen wir unterwegs und dank unserem Billigmüll an Bandgear von Conrad und Völkner, haben wir dann auch eine echt eigene Sound, supa.
Wir schicken dann von da per Botschaftspost -das einzige Asyl der Meinungsfreiheit, die darf nämlich nicht geöfnet werden- Liveberichte von der Revolutionären Aufstandsarmee der Ukraine/Machnowina, die dann in Form von Flugschriften und verbotenen Zeitschriften (NABAT) und nur analog veröffentlicht werden.
Es wird ein harter Kampf gegen die nazionalisten, kapitalisten, demokraten, zaristen, weißgardisten und asozialdemokratischen Stalinisten, aber warum auch nicht, was zwischen 1918 und 1922 geklappt hat, eine freie Süd- und Ostukraine inkl. Randgebiete unter der Schwarzen Fahne, funzt heute noch viel einfacher und das zu erkämpfende Gebiet heisst ab sofort MACHNOWINA