Das Bild wurde ihm mit einem Dreiangel in der Leinwand zurück ins Atelier gebracht. Zufällige Unachtsamkeit? Absicht? - Warten auf Grün von Lutz Friedel hatte auf der Dresdner Kunstausstellung der DDR 1982 für Aufsehen gesorgt: Im Vordergrund eine Menschmenge, Köpfe, dahinter Fahrzeuge, auch darin Leiber gedrängt und irgendwo - auf einem Bus? - die Wortfetzen: "...opa, Afrika, Mittel..." Wahrscheinlich eine Werbung. Nicht zufällig im Bild, passt es doch zum Titel: Warten auf Grün als Warten auf Reisemöglichkeiten. Eine in der bleiernen Zeit der achtziger Jahre in der DDR unvermeidliche politische Aufladung der Großleinwand. So wurde sie von den Betrachtern damals gedeutet. Aber Friedel war alles Plakative fremd. Jetzt, da das Bild in der Frankfurter Ausstellung im Museum Junge Kunst hängt, ist es nicht weniger als damals ein famoses Bild. Gemalt im Gestus der Jungen Wilden, einer Richtung, die Anfang der achtziger Jahre von Westdeutschland in die DDR hinüberschwappte.
Lutz Friedel, in Leipzig geboren, Malereistudium in Dresden und Leipzig, anschließend Meisterschüler bei Bernhard Heisig, malt mittlerweile 40 Jahre lang. Er geht auf die 60 zu, weshalb ihn das Museum Junge Kunst in einer Retrospektive vorstellt: in der Rathaushalle etwa sechzig Leinwände, dazu drei Dutzend Übermalungen auf Papier und in der Marienkirche rund sechzig Holzskulpturen, Köpfe und Ketzer, sein Walhalla der Nichtse. Eine Ausstellung zum Staunen, dass man sich fragt: Wo war Friedel bloß all die Jahre? Oft in großen Expositionen mit zwei, drei Bildern dabei, aber nur einmal allein ganz vorn: 1991 im Berliner Marstall, seine Schau, von der Akademie der Künste für ihn ausgerichtet.
1984 verließ er die DDR. Als die Jury sein expressives Titanic-Tryptichon nicht zur Berliner Bezirks-Kunstausstellung zuließ (DDR-Künstlerlos: ausjuriert!), wollte er nicht länger von Zufällen abhängig sein. Vielleicht war die Ablehnung wirklich Zufall, erinnert er sich heute gelassen: Sie hatten in den Ausstellungsräumen am Berliner Fernsehturm nur eine Wand für große Bilder und auf der sollte Erich Honecker, der sich zum Rundgang angekündigt hatte, nicht die Titanic untergehen sehen. Auch bei diesem Thema konnte der Betrachter auf Gedanken kommen. Dabei ist Friedel alles Plakative fremd. Die drei Titanic-Bilder sind ganz auf einem suggestiven Gelb-Schwarz-Kontrast aufgebaut und dabei in ihrer Gegenständlichkeit so frei, dass man die beschworene Katastrophe unmittelbar zu spüren glaubt.
Lutz Friedels Generation (mit seinen Atelierfreunden aus Studienzeiten Hans-Hendrik Grimmling, Günther Firit und Lutz Dammbeck) stand damals an, über kurz oder lang die Lehrer-Professuren in Leipzig oder Dresden zu beerben - aber darauf warten? Was er malte, war sein eigenes Warten auf Grün gewesen. Es war sein eigener Untergang mit der Titanic.
In der nächsten Koje der Ausstellung in Frankfurt steht der Betrachter vor fünf Großleinwänden mit Heuhaufen. Haufen von Heu, ja, gut, geschichtet auf den Stangen, wie es auf abgemähten Feldern üblich ist. Angedeutet erkennbar die Räumlichkeit der Landschaft, wenn sich im Hintergrund links und rechts als Horizont eine Waldlinie findet, aber doch gleitet das Bild hinüber in die Metapher, als läge unter dem geschichteten Heu Geschichte. Verdeckt, versteckt? Links in der Fünfer-Bildreihe der winterliche Heuberg: Was quillt da rot heraus? Blut? Was glüht und glimmt rot in dem braun-schwarzen Berg, dem Mittelbild: die letzten Feuer des kriegerischsten aller deutschen Jahrhunderte? Diese Bilder sind bruchlos nach seinem Weggang entstanden. Im Westen wurden sie nicht mehr plakativ gedeutet. Friedel sagt heute, dass seine Bilder aus dem kommen, was ihn fasziniert. Wie bei der Flugzeugserie, aus der in Frankfurt sechs Leinwände gezeigt werden. Begonnen hatte er sie, als er noch in der DDR gelebt hat: Flugzeuge über Häusern, über Innenhöfen, über Fassaden. Das waren seine Bilder vom Balkon in Ost-Berlin, wenn die Maschinen Tegel anflogen (Friedel kannte die Flugpläne), und es blieben seine Bilder in den ersten Jahren in West-Berlin: das optische Faszinosum der Riesenvögel, die manchmal wie Riesenfische, Haie, Wale, Rochen wirken über der Stadt.
Seine Bilder sind vielschichtig, weil sie immer Sprache der Farben und Formen sind, durchlässig für Themen, aber nie Themensprache. Die Ausstellung im Museum Junge Kunst zeigt, wie sehr Friedel in rund 30 Jahren seiner farbsicheren, gegenständlichen und eminent kraftvollen Malerei (inzwischen nicht mehr so expressiv wie einst) treu geblieben ist. Das gilt für Friedels Auseinandersetzungen mit Monet oder Velazquez, das gilt für seine Kraterschlünde, Muscheln oder Kürbisbilder. Bildfüllend, wie er die Sujets präsentiert, feiern sie das gemeinte Objekt und rücken zugleich von ihm ab in eine zweite, dritte Bedeutung. So werden Friedels Bilder für den genauen Betrachter lesbar als Echo einer von Zeitläufen und -brüchen aufgeladenen Biographie, die sich zwischen Ost und West ereignet hat, und bekennen zugleich sein unverkennbares Interesse an der Kunsttradition des 19. und 20. Jahrhunderts. Weil ihm alles Plakative fremd war, bleibt seine Malerei auf ihren überwiegend großen Formaten frisch und erregend.
Die Arbeit mit dem Holz wechselt er seit fünfzehn Jahren mit der Malerei ab. Wie zufällig verteilt stehen und liegen die bis zu einem Meter hohen Köpfe auf dem nackten Steinboden, als hätte Gott doch gewürfelt. Mancher hat einen Nachbarn zur Seite, viele nicht. Sie blicken beseelt und selig wie stumme Zeugen der Zeit. Es scheint, als hätte Friedel sie aus dem harten Eichenholz zurück ins Leben gezwungen. Stumm zwar sind sie geblieben, aber unübersehbar steht in ihren Gesichtern: Sie müssen etwas gesehen haben. Was Friedel auf seiner Selbstumseglung bisher gesehen hat, zeigt er in dieser Doppelausstellung.
Lange hat es gedauert, bis der Betrachter in der lohenden Retrospektive Lutz Friedel frei von plakativen oder unterschätzenden Deutungen als exzellenten Maler und Plastiker entdecken kann.
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