Den Stand der deutschen Einheit bei der bildenden Kunst und der Literatur hat unser Autor Michael Hametner in zwei Texten zu beschreiben versucht (der Freitag 24 und 31/2020). Dabei stellte er immer noch viel Trennendes fest, zeigte die Ungleichgewichte, die man heute immer noch vorfindet. Hametner konstatierte, dass „Ost-Kunst“ im Westen unterrepräsentiert ist, nach 30 Jahren fast traditionell. Weil man sie größtenteils nicht kennt, während man im Osten immer noch bemüht ist, faire Präsentationen hinzubekommen. In der Literatur kennt man vielleicht zwei, drei Dutzend AutorInnen aus Ostdeutschland, befand Hametner, aber „die zweite Reihe kommt schon kaum noch vor“.
Die Schweizer Künsterlin Jacqueline Merz und der Dichter Marcel Beyer leben seit vielen Jahren in Dresden. Mit welchem Gefühl schauen die beiden „Westler“ auf den Prozess der Einheit, wollte Hametner jetzt wissen. Merz ist Malerin und Fotografin. In Zürich wohnte sie in einem besetzten Haus, bevor es sie 1991 eher zufällig nach Dresden verschlug. Den „Westen“ habe sie sofort übersprungen, sie habe sich gleich als „Neu-Ossi“ gefühlt, erzählt Merz. Der 1965 im schwäbischen Tailfingen geborene Schriftsteller Marcel Beyer und sie sind schon lange ein Paar. Beyer zog 1996 von Köln zu ihr nach Dresden, es sei die beste Zeit gewesen, um etwas Neues zu beginnen.
der Freitag: Jacqueline Merz, Marcel Beyer kam Ihretwegen, warum gingen Sie denn 1991 nach Dresden?
Jacqueline Merz: Ich habe 1990 mein Diplom in Zürich an der Hochschule für Gestaltung und Kunst gemacht. Zürich war nie meine Stadt. Dort fiel es mir schwer, den Sprung in die freie Kunst zu wagen. Ich habe in einem besetzten Haus gewohnt. Das ging zu Ende. Für anderen Wohnraum fehlte mir das Geld. Ich war in einem Schwebezustand. Da sind dann Zufälle sehr entscheidend. Eine Freundin bat mich, sie bei einer Reise Silvester 1990/91 nach Dresden zu begleiten. Ein Freund von ihr hatte eine Ausstellung an der Hochschule hier.
Und da haben Sie sie begleitet ...
JM: Ja, das war ein starker Eindruck. In Zürich haben sie alle gesagt: Ich arbeite bei der Post und nebenbei mache ich auch noch Kunst. Und hier haben sie alle gesagt: Ich bin Künstler, das ist mein Beruf. Das war für mich wie eine Befreiung.
Marcel Beyer, Sie hat die DDR in Ihrem Geschichtsunterricht null interessiert, hab ich irgendwo gelesen. Warum?
Marcel Beyer: (lacht) Das hatte auch mit dem Geschichtslehrer zu tun.
War das damals eine verbreitete Haltung im Westen?
MB: Nein, das kann man nicht sagen. Es gab eine deutliche Links-rechts-Trennung oder konservativ und nicht so konservativ. An meiner Schule, die eine sehr junge Schule war, mit jungen Lehrern, gab’s eine Zweiteilung. Mein Klassenlehrer war früh durch China gereist und nicht an die Adria. Der wollte was wissen. Mein Geschichtslehrer nicht, der hatte seine Meinungen: zwei deutsche Staaten, hervorgegangen aus dem Zweiten Weltkrieg. Das war einer, der wollte uns die DDR nahebringen, damit wir uns freiwillig entscheiden, zur Bundeswehr zu gehen.
Gab es bei Ihnen beiden Sympathien für linke Utopien, die Sie mit der DDR verbunden haben?
JM: In der Schweiz haben wir uns nach Frankreich, Amerika, Spanien, Italien orientiert. Ich war ein halbes Jahr erst in Mexiko, dann in den USA. In Mexiko habe ich eine RAF-Frau kennengelernt, die geflüchtet war und später nach Ost-Berlin gezogen ist. Ich weiß nicht genau, ob sie mir ihre richtige Identität genannt hat. Aber dabei sind Westdeutschland, die DDR und das Politische überhaupt in meinen Kopf gekommen. Ich habe als Schweizerin begeistert Christa Wolf gelesen, gehörte aber nicht zu den ganz Linken von der Hausbesetzerszene, für die die DDR ein Utopie-Land war. Das Land, wo’s besser funktioniert. Die sind mit der Wende sehr ins Schlingern gekommen. Ihr Wunschort, wo man hätte hingehen können, war weg.
Gab’s bei Ihnen, Marcel Beyer, linke Sympathien?
Ja, natürlich. Aber der Blick richtete sich nicht so sehr auf die DDR, sondern auf die Befreiungsbewegungen in Lateinamerika. In der DDR passierte in den 80er Jahren nicht viel. Dafür umso mehr in Polen. Solidarność, Lenin-Werft, Walesa. Das hat uns beschäftigt. Mitschüler aus christlichen Kreisen haben Sendungen von Hilfsgütern organisiert. Ungarn ’56 und Tschechien ’68 kannten wir aus den Erzählungen unserer Eltern. Polen und das Kriegsrecht, das war nur dreizehn Jahre später. Für mich war die Frage: Was kann man tun, damit die Streikenden in Polen der Gewalt nicht so hilflos ausgeliefert sind? Insofern übersprangen wir die DDR.
Zur Person
Marcel Beyer, Jahrgang 1965, studierte Germanistik, Anglistik, Literaturwissenschaft, arbeitete als Lektor und Autor. Frühe Gedichte waren stark von Friederike Mayröcker inspiriert, deren gesammelte Prosa und Lyrik er 2001/2004 herausgab. Mit Flughunde , seinem zweiten Roman, hatte er 1995 einen ersten größeren Erfolg. 2016 erhält er den Georg-Büchner-Preis. Bei Suhrkamp erschien kürzlich sein Gedichtband Dämonenräumdienst
Die frühe Zeit der Wiedervereinigung wird ja meist als die wilden Jahre beschrieben. Lutz Seiler erzählt sie in seinem Roman „Stern 111“, wo junge Leute in Ost-Berlin nicht erst auf die Klärung der Eigentumsverhältnisse gewartet haben. Sie besetzten Häuser und verschafften sich Wohnrecht. Die waren kreativ ohne Ende. Haben Sie diese wilden Jahre noch erlebt, als Sie nach Dresden kamen?
JM: Ich kam aus dieser wohlstandsdepressiven Schweiz in ein Umfeld, das sich befreit hatte. Jeder war im Aufbruch. Nicht nur ich hatte vor, in Dresden neu anzufangen. Wir hatten damals alle gleichzeitig neu angefangen. Ich war 28, 29. Um mich herum die Stimmung: Alles ist möglich!
Wie lange hielt das an?
JM: Bis ungefähr 1994. Bis die Eigentumsverhältnisse geklärt waren. Meine erste Wohnung in Dresden kostete 40 Mark ...
Sie haben gesagt, eine offene Gesellschaft war es bis 1993/94. Warum ging es zu Ende?
JM: Danach setzte die Depression ein. Mit den Stasiakten und durch existenzielle Nöte. Meine Miete ging in dieser Zeit um 200 Prozent hoch. Bei 800 DM im Monat setzte auch bei mir eine große Ernüchterung ein.
Welche Rolle spielten die Stasiakten?
JM: Als sie auftauchten, entstand gegenseitiges Misstrauen. Ich habe als Schweizerin erst gar nicht gemerkt, was da läuft.
Wie trafen Sie, Marcel Beyer, Dresden 1996 an? Dass jetzt die Zeit war, wo der Osten Westen werden wollte, ist ja auch nur ein Schlagwort. Wie empfing Sie Dresden damals?
MB: Für uns waren diese ersten Jahre hier in Dresden die beste Zeit, um etwas Neues anzufangen. Die Dynamik des Westens kam in den 90er Jahren immer mehr zum Stehen. Vieles wurde institutionalisiert, geregelt, subventioniert. In Köln gab’s die Stollwerck Schokoladenfabrik, die sollte abgerissen werden und wurde in den 80ern besetzt. Es entstand ein wildes Kulturzentrum. Das verwandelte sich in den 90ern in einen Verein mit Satzung und Vorstand. Die Freiheit ging nicht weiter. Im Osten ging sie los. Auf Brachen, in aufgegebenen Fabrikhallen. Gab’s ja genug. Ich war zu dieser Zeit mit der Uni fertig, hatte ein erstes Buch, das mir Einkommen verschaffte durch Lesungen. Mich lockte die Möglichkeit, etwas ganz Anderes kennenzulernen. In fünf Jahren würde ich kaum noch so frei und beweglich sein. Als Jacqueline und ich zusammenziehen wollten, war ganz schnell klar, dass nicht sie nach Köln kommt, sondern ich nach Dresden gehe.
JM: … uns war klar, dass man Ost und West in zehn Jahren nicht mehr voneinander wird unterscheiden können.
Äußerlich wird man nicht mehr unterscheiden können, das ja ....
MB: Wie stark Mentalitäten und materielle Gegebenheiten noch durch die Jahrzehnte wirken, hat man sich nicht klargemacht.
Hatten Sie Mitte der 90er das Gefühl, dass die deutsche Einheit eine Chance bedeutet? Der Westdeutsche und die Schweizerin, hatten sie das Gefühl, dass die Bundesrepublik jetzt ein anderes Land werden kann?
MB: Sie ist es ja auch geworden.
Inwiefern?
MB: Was ich nicht richtig verstehe – das ist ein Grundproblem von mir – , warum das nicht funktioniert in Ostdeutschland, dass die Menschen herausarbeiten, positiv, den Anteil, den sie gehabt haben an der Veränderung der Bundesrepublik Deutschland. Warum funktioniert das nicht. (Interviewer lacht.) Man geht immer so schnell aufs Wirtschaftliche. Ja, ja, natürlich ist die Bundesrepublik wirtschaftlich sehr stark in Europa und spielt deshalb auch eine entscheidende Rolle in der EU, aber dass die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, der ganze Osten und Südosten so gut mit uns reden und handeln können, das hat doch damit zu tun, dass Deutschland aus einem Westteil und einem Ostteil besteht. Wäre die alte Bundesrepublik geblieben wie vor 1990, dann wäre das nicht so.
Gut und schön, Deutschland hat jetzt West- und Ostkompetenz. Aber beides geht nach außen. Ich meine die innere Einheit. Wo ist denn da Deutschland anders geworden …
MB: … natürlich ist Deutschland anders geworden!
Im Osten!
MB: (lacht) Menschen aus Westdeutschland haben sich dreißig Jahre durchschlagen können ohne Osterfahrung. Bei den meisten hat sich ihr Blick auf die Welt dreißig Jahre nicht verändert. Für Menschen, die in der DDR gelebt haben, war das anders. Sie waren gezwungen, sich in ein neues Leben zu finden. Sie konnten die Veränderung durch die Wiedervereinigung nicht ausblenden und wollten es meist auch nicht. Aber das hat sich geändert, zumindest bei einem Teil der Ostdeutschen. Die sich sozial abgehängt und enttäuscht fühlen, haben sich vom Westen weggedreht und pflegen einen selbstzerstörerischen Trotz.

Foto: Ingmar Björn Nolting für der Freitag
Halten Sie den Ostdeutschen vor, dass die gewissermaßen ihr Licht unter den Scheffel gestellt haben und nicht darauf bestehen, dass sie einen großen Anteil an der Veränderung Deutschlands haben? Den größten, denn die friedliche Revolution ist die Leistung der Ostdeutschen.
MB: Ich glaube, mit dem Ende der DDR standen zwei Dinge an: Zum einen wäre es darum gegangen, das eigene Rückgrat zu stärken, indem man sich gemeinsam der Erfahrung versichert: Wir haben die DDR friedlich beendet. Zum anderen wäre es damit vielleicht auch möglich gewesen, die schambehafteten Verbiegungen in den Blick zu nehmen, zu denen man sich vierzig Jahre lang gezwungen sah. Der enorme ökonomische Druck, der in der Nachwendezeit bald spürbar wurde, hat dem entgegengestanden. Gerade im protestantisch geprägten Osten mit seinem starken Arbeitsethos reihte sich das Ohnmachtsgefühl der Arbeitslosigkeit nahtlos an das Ohnmachtsgefühl unter gesellschaftlichen Zwängen, die man doch eben erst aus eigener Kraft überwunden hatte.
Womit Sie meinen, dass man mit diesen existenziellen Rückschlägen nicht das Selbstwertgefühl entwickeln konnte, was den Ostdeutschen durch die Friedliche Revolution zugestanden hätte?
JM: Nur mal auf die Situation der Frauen im Osten geblickt. Viele haben von heute auf morgen ihre Arbeit verloren. Was oft ihre gegenüber dem Westen viel fortgeschrittenere Emanzipation abgebrochen hat.
Zur Person
Jacqueline Merz, 1962 geboren in Niederbipp/Schweiz. Studierte an der Züricher Höheren Schule für Gestaltung. Malerin, Fotografin, Grafikerin. Ihre Arbeiten sind vom Kunstfonds für die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und von der Sächsischen Akademie der Künste angekauft. 2019 gestaltete sie sechs Siebdrucke zu Gedichten von Marcel Beyer für den Band Farn in der Reihe „Paradiesische Dialoge“ des Leipziger Bibliophilen-Abends
Wenn ich Direktoren von Museen, Richtern und Universitätsprofessoren, Ministerialbeamten und Chefredakteuren zuhöre, was ich als Radiomann ja geübt habe, dann höre ich am Sprachklang westdeutsche Herkunft. Ostdeutsche hatten weniger Berufszeit im Ausland, dafür mehr Brüche in ihrer Biografie und kamen deshalb oft als Bewerber nicht infrage. Auch durch Personalpolitik wurde der Osten zum Westen gemacht. Das hält bei Neubesetzungen der Chefposten bis heute an.
MB: Hierarchien und Chefposten interessieren Jacqueline und mich nicht – wir haben ja nicht ohne Grund ein Leben ohne Chef gewählt. Ich würde eher von Verantwortungsträgern sprechen, und da finde ich es sehr gut, dass Sachsen heute einen Ministerpräsidenten hat, der aus Sachsen stammt und zugleich gewissermaßen ein Wendekind ist, der also um diefrüheren Verhältnisse weiß, ohne in ihnen befangen zu sein. Verrückterweise habe ich schon bei meiner Ankunft im Osten den wie ich aus dem Westen stammenden Kurt Biedenkopf nicht als „meinen“ Ministerpräsidenten empfunden.
Mir geht es um den Begriff der Deutungshoheit. Die Ostdeutschen hatten sie nicht, was es ihnen schwer macht, von einer wirklichen Einheit zu sprechen.
MB: Mit der Deutungshoheit spielt wieder ein Machtmoment hinein, das mir völlig fremd ist. Niemand hat die Deutungshoheit über die Geschichte. Es geht doch eher darum, sich gemeinsam über etwas zu verständigen – aber das kann natürlich nicht funktionieren, wenn eine Seite kaum Interesse an Verständigung zeigt. Was mich alarmiert, ist, dass dieselbe Gesprächsverweigerung heute von Ost-Eltern an ihren Kindern ausgelebt wird, denen sie das Mitspracherecht verweigern, weil die Kinder eben keine DDR-Erfahrung mitbringen. Die Deutungshoheit im eigenen Haus bleibt bei Vater und Mutter. Die Jungen ertragen das schwer und machen sich davon. Und da nützt es wirklich nichts, dass die Zeit vor ein paar Jahren die Sonderseiten „Zeit im Osten“ eingeführt hat, eine, wie ich finde, hochproblematische Sache.
Wieso hochproblematisch?
MB: Wieso nach dreißig Jahren diese Überschrift „Zeit im Osten“ – ist es nicht einfach Die Zeit? Und zweitens: Warum liegt dieser Teil nur im Osten bei?
JM: Da liegt der Hase im Pfeffer!
MB: Mir scheint, Hamburg will das koloniale Bild beibehalten. Man hat immer für Afrika gespendet, jetzt machen wir’s für den Osten.
JM: Wir dürfen nicht vergessen, dass die Wiedervereingung einen Bruch bedeutete. Der Westen hat ihn nur nicht gemerkt. Bei ihren Fahrradtouren nach Dresden und in die Sächsische Schweiz spüren sie ihn nicht. Für sie ist Deutschland lediglich um ein paar schöne Landschaften größer geworden.
Gab’s denn für Sie einen Weg aus dem Fremdsein heraus?
JM: Ich dachte lange, ich hätte es geschafft. Im Moment – seit Pegida und den Dresdner Rechtstönern – fühle ich mich wieder sehr fremd. So fremd, wie ich mich nie hier gefühlt habe. Es gab das Gefühl am Anfang, klar, aber spätestens beim Hochwasser 2002 war es absolut weg. Wir saßen alle in einem Boot, und das drohte in der schnellen Strömung zu kentern.
Ingo Schulze hat einmal hat bei der Beurteilung der deutschen Einheit gesagt: Der Westen hat sich zur Norm erklärt. Fü
MB: Das hat auch mit Mehrheitsverhältnissen zu tun. Sechzehn Millionen Ostdeutsche sind halt weniger als sechsundsechzig Millionen Westdeutsche. Die deutsche Minderheit in Belgien wird nie den Ton angeben in Belgien.
Am Schluss unseres Gesprächs die Frage, die der Anlass war: Wie weit ist die Einheit in dreißig Jahren gekommen, bei der bildenden Kunst und bei der Literatur? Beschäftigen Sie sich überhaupt noch mit dieser Frage oder gehört nach dreißig Jahren endlich ein Häkchen dran?
JM: Als ich angefangen habe, mich als Neu-Ossi zu fühlen, war für mich meine ganz persönliche deutsche Einheit vollzogen. Anders kann ich es nicht sagen, denn ich bin von der Schweiz direkt nach Ostdeutschland gekommen. Ich habe den Westen ausgelassen.
Was noch an der deutschen Einheit fehlt, bringt Sie, Marcel Beyer, nicht um den Schlaf, oder?
MB: Nein, sie bringt mich nicht um den Schlaf. Ich bedauere Westdeutsche um dreißig Jahre deutsche Erfahrung, die sie nicht gemacht haben.
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