Christoph Hein wartet in seiner Erzählung Ein Wort allein für Amalia mit einem fiktiven Brief auf. Gotthold Ephraim Lessings Tochter Malchen hat ihn der Witwe eines Freundes geschrieben, er enthält die wahren Umstände des Tods ihres Vaters. Die liegen 1842, zum Zeitpunkt des Briefschreibens, bereits etwas im Nebel falscher Hinzuerfindungen und übler Nachreden. Malchen verfasst den Brief rund sechzig Jahre nach dem Tod ihres Vaters am 15. Februar 1781. So die äußeren Umstände, die Hein seiner Fantasie für die knapp achtzigseitige Erzählung gesetzt hat, veröffentlicht zusammen mit Illustrationen von Rotraud Susanne Berner als Band Nr. 1479 der Insel-Bücherei.
Auch hübsch: Die Vignetten, die vor allem Vasen mit kargen Blumen und Insekten zeigen, gehören in das Zwischenreich von Leben und Tod und sind in diesem Band eine eigene Stimme. Nach dem vorangegangenen Kinderbuch ist es die zweite Zusammenarbeit von Christoph Hein und Rotraut Susanne Berner. Beeindruckend, Heins verschlungener Werke-Weg: Nach Gegenwartsstoffen (die Romane Trutz und Verwirrnis), nach autobiografischen Geschichten (Gegenlauschangriff – Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege), nach zuletzt einem Kinderbuch jetzt eine Erzählung über Lessings letzte Tage. Ist das Bändchen Heins Versuch, nach der heftigen Kritik an Fehlern in seinen Lebenserinnerungen, in Gegenlauschangriff, ins Offene zu kommen? Immerhin bedauerte Hein im März 2019 ungewohnt zerknirscht in einem Interview mit der Zeit die Fehler. Warum nicht aus der Enge ins Offene gehen, zumal bei Hein ganz sicher noch etwas anderes dranhängt als Lessings Leidensgeschichte. So ist es auch. Zunächst erinnern wir uns – am Ende mithilfe von Wikipedia –, dass Lessing gar keine Tochter besaß. Amalia war die Tochter seiner Frau Eva König aus ihrer ersten Ehe mit Herrn König. Drei Jungs, ein Mädchen. Sie wurde Lessings „gefühlte“ Tochter. Gefühl war wahrscheinlich so viel im Spiel, dass Lessing das Malchen auch geheiratet hätte. Nichts dran. Böse Nachrede war dieser Heiratsplan, sagt Lessing, und Malchen ahnte davon. Mehr Ahnungen als Wissen. Jedenfalls: Lessing ist Bibliothekar des Herzogs und hat seine Bibliothek in Wolfenbüttel. Er reist Ende Januar 1781 dienstlich nach Braunschweig an den Hof. Eine Reise, die er trotz schlechter Gesundheit unternimmt. In Braunschweig erleidet er am Abend des 3. Februar 1781 einen „Stickfluss“, der ihn teilweise lähmt und ihm zeitweilig sogar die Sprache nimmt. Er bekommt sein Krankenzimmer im Haus des Weinhändlers Angott und seiner Frau. Amalia, Lessings Malchen, wird verständigt und trifft am 4. Februar in Braunschweig ein. Von jetzt an hat Lessing noch elf Tage. Wie meist in solchen finalen Fällen setzt zunächst eine Besserung ein.
Um ein Vielfaches radikaler
Die Lähmung geht zurück und die Sprache kehrt wieder. Sie sprechen miteinander. Christoph Hein, der Autor, führt still im Hintergrund die Fäden und lässt Lessing von einem Punkt aus sprechen, wo man nichts mehr zurückhält. Beispielsweise entdeckt der Todkranke in der Erfahrung des Verfalls seinen Körper neu: „Geckerei ist’s, von unserem Körper gering zu denken. Er ist vergänglich, gewiss, aber ist er nicht deswegen höher zu schätzen als das Unveränderliche? Ist er nicht kostbarer als die Ewigkeit, da wir ihn nur kurze Zeit besitzen?“ Lessing ehrt den Körper erst, als dieser dabei ist, den Geist aus ihm zu verabschieden. Dabei ist doch noch so vieles nicht vollbracht. Die Fortsetzung vom Nathan der Weise wollte er schreiben.
Den Titel hatte er schon: „Derwisch“. Lessing fühlte sich reif, ihn jetzt zu schreiben, wo er um ein Vielfaches radikaler denkt. Wenn er die fünf Monate zur Ausführung noch hätte, wäre sein „Derwisch“ in der Welt. Er würde ihr sagen, dass die Unmündigkeit, die Kant und er den Menschen austreiben wollten, mit dem Wohlstand zurückgekehrt ist: „Unser Wohlstand ist die erworbene Fähigkeit, die Kränkungen und Demütigungen zu ertragen und die Peinlichkeiten an Körper und Seele hinzunehmen. Dann sind wir nützliche Glieder des Menschengeschlechts und werden verdienstvolle Bürger geheißen.“
Lessings Bitternis ist verursacht von der Erfahrung, dass viele die Bequemlichkeit vorziehen, unmündig zu sein. Sie schützen ihre Bequemlichkeit gegenüber den Kritikern, indem sie die, die anders leben wollen, für verrückt erklären. Lessing wirft sich vor, dass er immer noch zu hoch von sich denkt, nicht im Hui alles von sich wirft und ihrem verrückten Beispiel folgt. Christoph Hein verweigert Lessing die Beschaulichkeit, etwa: Was ist mir, dem großen Aufklärer Lessing, alles gelungen, gegenüber dem, was mir nicht gelungen ist. Nein, Hein treibt die letzten Gespräche mit Amalia an mit Lessings Unruhe. Die Radikalität, die er Lessing gestattet, ist die des Schriftstellers Christoph Hein in jenem Jahr, in dem er 75 geworden ist. Lessing, der Aufklärer, bot ihm dafür das Erzähl-Gefäß. Beide, Lessing und Hein, werden sich wohl „gescheiterte Aufklärer“ nennen. Müssen sie auch, denn die Neuen Rechten halten es nicht mit Vernunft und Wissenschaft und protzen dafür umso mehr mit Kenntnissen, die sich schwer kontrollieren lassen. Sie haben sich eingenistet jenseits der Vernunft. Diese Gedankenwelt des heutigen Rechtsradikalismus betritt Christoph Hein in seiner Lessing-Erzählung nicht, aber er führt den Leser dahin auf dem Umweg von Lessings Sterbestunde. Hein bleibt bei Lessing und lässt ihn bis zum letzten Atemzug nichts zurücknehmen, außer der Hoffnung. Bitter genug für einen Sterbenden.
Die kleine Erzählung Ein Wort allein für Amalia von Christoph Hein ist im Hintergrund ein großes Stück Verzweiflung. Davor setzt er stilsicher die Briefsprache einer 81-jährigen Frau, die sich – von heute aus – vor rund 180 Jahren an das Sterben ihres Vaters erinnert, den sie bereit war zu heiraten. Möglich, denn er war mitnichten mit ihr verwandt. Aber Rotraud Susanne Berners diverse Blumenvasen und Insekten zeigen Verwandtschaft: alles andere als überschäumende Natur, sondern die stillen Zeugen eines Sterbezimmers. Ein bitterer Text, ein glückliches Buch.
Info
Ein Wort allein für Amalia Christoph Hein Illustrationen von Rotraut Susanne Berner, Insel-Bücherei Nr. 1479, 90 S., 14 €
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