„Lust, mehr zu erzählen“

Interview Am Leipziger Literaturinstitut geht die Ära Josef Haslinger zu Ende. Welchen Kosmos verlässt er?
Ausgabe 29/2021
„Man kann Schreiben nicht lehren, aber man kann Freiheit ermöglichen“
„Man kann Schreiben nicht lehren, aber man kann Freiheit ermöglichen“

Foto: Erli Grünzwell für der Freitag

Nach 25 Jahren räumt Josef Haslinger seinen Schreibtisch im Deutschen Literaturinstitut in Leipzig auf. Ich treffe ihn umgeben von Bücherbergen, die für Büchermenschen immer das Sichtbarste sind, was bleibt, wenn sie – wohin auch immer – gehen. Ich darf mir welche aussuchen und finde auf die Schnelle drei. Haslinger hat die Ausbildungsstätte für Schriftsteller in Rotation mit zwei Kollegen geleitet. Er schrieb unter anderem die Romane Opernball (1995) und Vaterspiel (2000), im Vorjahr erschien mit Mein Fall ein autobiografischer Bericht über sexuellen Missbrauch in der Kirche. Im Sommer geht mit der Emeritierung für den gebürtigen Österreicher seine Zeit in Leipzig zu Ende. Mit welcher Bilanz verlässt er die Dichterschule?

der Freitag: Herr Haslinger, was kommt jetzt: ein großes schwarzes Loch oder endlich die Zeit, unbeschwert vom Unibetrieb Romane zu schreiben?

Josef Haslinger: Es müssen nicht Romane sein. Aber die Lust, mehr zu erzählen, als mir bisher möglich war, ist definitiv da. Hinzu kommt eine Neuorientierung im Umgang mit der kommenden Lebenszeit. Ein offener Prozess, würde ich sagen. Ein großes schwarzes Loch wird es sicher nicht werden. Aber das Ende einer Tätigkeit, die ich gerne ausgeübt habe und die mit vielen mir lieb gewordenen Begegnungen verbunden war, hinterlässt gewiss Phantomschmerzen.

25 Jahre Leitung des Deutschen Literaturinstituts sind die längste Festanstellung im Leben des Schriftstellers Josef Haslinger geworden: Wie kam es?

Ich wurde von der Berufungskommission, die sich im ersten Verfahren auf niemanden einigen konnte, zu dieser Professur eingeladen. Zufällig war ich gerade Gast des Internationalen Programms beim Writers Workshop in Iowa, der ältesten und wohl auch renommiertesten Ausbildungsstätte für Schriftstellerin*innen in den USA. Als ich mich dort umsah, fragte ich mich die ganze Zeit, warum es bei uns so etwas nicht gibt. Nicht auf der Uni. Nicht als Studium. Ich trug mich mit dem Gedanken, in Österreich zu versuchen, ein vergleichbares akademisches Studienprogramm zu initiieren. Einen besseren Zeitpunkt hätte der Brief des Gründungsdirektors Bernd Jentzsch nicht treffen können.

Gerade wurde der Absolvent und spätere Geschäftsführer des Instituts Claudius Nießen damit zitiert, was Sie bei seiner Immatrikulation gesagt haben sollen: Diplomschriftsteller, dieses Diplom können Sie sich übers Klo hängen. Falsch zitiert?

Das habe ich tatsächlich hin und wieder gesagt, wenn ich den Eindruck hatte, dass sich jemand vom Diplom zu viel erwartet. Der Studienabschluss war damals überhaupt nur im Freistaat Sachsen anerkannt. Hinzu kam, dass sich im ersten Jahrzehnt eine Art feuilletonistischer Gegenwind gegen literarische Ausbildungsstätten entwickelt hatte. „Diplomschriftsteller“ war kein schmeichelhafter Begriff. Ein wenig Realitätsvermittlung gehörte zu meinen Job dazu. Wenn die Leute mit falschen Erwartungen studieren, können sie nur enttäuscht werden.

Ich vermute, die Frage steht nach 25 Jahren immer noch über dem Institut und über Ihrer Arbeit: Kann man das Unlehrbare lehren? Ist Ihre Antwort identisch mit der vor 25 Jahren?

Das Studium ist eine gute Möglichkeit, literarische Erfahrung zu sammeln und sich selbst in verschiedenen Genres und Themenbereichen schreibend und nachdenkend auszuprobieren. Man kann Schreiben nicht lehren. Aber man kann zeigen, dass sich über jedem Text ein literarischer Möglichkeitsraum aufspannt. Es geht nicht darum, mit einem Regelwerk die literarische Freiheit einzuschränken, sondern es geht darum, mehr Freiheit zu ermöglichen, weil man auch andere Möglichkeiten der Textgestaltung sehen kann. Wenn viele sich am Literaturinstitut literarisch gut entwickelt haben, dann sind sie selbst dafür verantwortlich. Dass der Zuspruch oder Einspruch der Mitstudierenden letztlich wichtiger ist als die Ansicht des Seminarleiters, musste ich erst lernen.

Zur Person

Josef Haslinger, 66, wurde im niederösterreichischen Waldviertel geboren. Ab 1977 war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Wespennest. Von 2013 bis 2017 war Haslinger Präsident des PEN-Zentrums Deutschland, von 1996 bis 2021 in Rotation Direktor am Deutschen Literaturinstitut Leipzig

Ich habe gerade gehört: Im Jahr 2020 sind 36 Bücher von Institutsabsolventen erschienen. Ist das DLL für Bewerber so attraktiv, weil es ein Sprungbrett ist?

Je mehr DLL-Absolventen in der literarischen Öffentlichkeit tätig sind, desto hartnäckiger hält sich das Gerücht, das DLL sei ein Sprungbrett. Als wären wir eine Agentur oder eine Medienshow. Wir kümmern uns um die Entwicklung, aber nicht um die Vermarktung von Texten. Die jährliche Anthologie Tippgemeinschaft gibt der Öffentlichkeit einen guten Einblick in die Texte, die gerade am Institut geschrieben werden. Die Tippgemeinschaft und die über Leipzig hinausgehenden Lesereihen sind autonome Projekte der Studierenden. Und das sollte so bleiben. Protektionismus würde letztlich dem Ruf aller schaden. Die Entwicklung zu literarischen Universitätsverlagen, wie sie in den USA gang und gäbe sind, sollten wir möglichst hinauszögern.

Sind die Studenten in den 25 Jahren andere geworden? Am Anfang Ihrer Zeit begabter und weniger clever, heute cleverer und weniger begabt?

So könnte ich das nicht sagen. Andere geworden, ja, das stimmt natürlich. Da ein Studium am DLL im Prinzip nur drei Jahre dauert, hat es ein Studierender mit nicht mehr als fünf Jahrgängen von Mitstudierenden zu tun. Zwei vor dem eigenen und zwei danach. Ereignisse, Konflikte und literarische Auseinandersetzungen, die drei Jahre vorher stattgefunden haben, sind für die aktuell Studierenden höchstens durch Hörensagen überliefert. Das heißt, es kommt alle paar Jahre zu einem kleinen Generationenwechsel mit neuen dominanten Einstellungen. Diejenigen, die heute studieren, haben als Kinder Harry Potter gelesen und Ego-Shooter gespielt. Ihr ästhetisches Empfinden ist eher von der Dramaturgie der Filmserien geprägt als von den Romanen Thomas Manns. Das ist mir eines Tages klar geworden, als ein Studierender ein Referat über die Erzählstrategien von Ego-Shootern gehalten hat. Mittlerweile ist auch die an Ego-Shootern ihre Fantasie auslebende Generation passé. Die sozialen Bewegungen der Jugendlichen haben neue politische Themen ins Institut gebracht. Wenn man diese Veränderungen des ästhetischen Gedächtnisraums ernst nimmt, kann das zu höchst interessanten Textbesprechungen führen.

Es scheint so, dass inzwischen nicht nur literarische Kriterien über Literatur entscheiden, sondern beispielsweise der Anspruch, geschlechtsspezifische Identität im Schreiben zu vertreten. Ist Literatur dafür aus Ihrer Sicht der geeignete Ort?

Waren literarische Kriterien nicht immer auch schon gesellschaftliche? Die viele (meist ältere) Menschen irritierende Konzentration auf geschlechtsspezifische Identitäten oder eben auch Nichtidentitäten geht meiner Erfahrung nach einher mit einer ausgeprägten Hellhörigkeit für Rassismus. Umgekehrt ist das nicht unbedingt der Fall. Wer Rassismus aufgrund seiner eigenen Herkunft kennengelernt hat, ist damit nicht automatisch auch LGBTI-sensibel geworden. Der Diskurs über Political Correctness, über den ich vor 20 Jahren in den USA noch den Kopf geschüttelt habe, hat mich erneut eingeholt. Und nun mache ich brav meine Gendersternchen. Habe ich dazugelernt oder bin ich schlicht umerzogen worden? Mit einigem Glück kann ja beides zusammenfallen.

Bekannte Autor:innen, feuilletonistischer Gegenwind

Literarisches Schreiben wird im deutschsprachigen Raum am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL), an der Universität Hildesheim, an der Universität für angewandte Kunst Wien und an der Hochschule der Künste Bern gelehrt.

Der Vorläufer des DLL, das in den 1950er Jahren gegründete Institut für Literatur Johannes R. Becher, wurde im Zuge der Wende 1990 unter großem Protest aufgelöst mit der Begründung, das Studienangebot „stehe freiheitlicher Gesellschaft und demokratischem Rechtsstaat entgegen“. 1995 erfolgte die Neugründung. Seit 1999 wird die Funktion der Leitung durch einen geschäftsführenden Direktor wahrgenommen. Die Professoren des Instituts, unter ihnen Josef Haslinger, wechseln sich dabei ab.

Das DLL hat bekannte Schriftsteller hervorgebracht. Unter ihnen Nora Bossong, Olga Grjasnowa, Saša Stanišić, Juli Zeh. Professsoren und Dozenten waren Herta Müller, Terézia Mora, Lutz Seiler, Ulrich Plenzdorf, Christoph Hein. „Feuilletonistischen Gegenwind“ gegen die „Diplomschriftsteller“ gab es 2014. Der Kritiker Florian Kessler, heute Lektor bei Hanser, attackierte damals die deutsche Gegenwartsliteratur in der Zeit als zu konformistisch, die Schreibschul-Autoren stammten alle aus demselben saturierten Milieu. Jüngst nun verteidigte Kessler die Autoren gegen Mainstream-Anwürfe des Kritikers Moritz Baßler in der Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik.

Sie selbst sahen Literatur immer als Ort für politische Diskurse, Ihr Roman „Opernball“ gilt als Politthriller. Wie politisch offen und entschieden sind Studenten heute oder war es Ihnen lieber, wenn das aus der Ausbildung herauszuhalten war?

Politisches habe ich nie ausgegrenzt. Es hat mich immer interessiert, wie die Studierenden sich politisch orientieren. Wie an einer Erbpacht hielt ich all die Jahre an dem Modul „Ästhetik, Kultur- und Sprachtheorie“ fest, weil es mir einen großen Gestaltungsspielraum gewährte und weil ich dabei mit den Studierenden gut ins Gespräch kam. Ich habe das Seminar um 9 Uhr früh angesetzt, damit nicht zu viele kommen. Dafür habe ich für alle Teilnehmer*innen aus Wien importierten Kaffee gekocht. Das hat die Geister geweckt und die Zunge gelockert.

Lesen die Studenten heute überhaupt noch Literatur? Oder wollen sie nur noch Schriftsteller werden ...?

Wer nicht liest, hat kaum eine Chance, die Zulassungsprüfung zu bestehen und könnte die produktiven Möglichkeiten dieses Studiums kaum für sich nützen. Freilich darf man nicht voraussetzen, dass die Studierenden mit dem traditionellen Literaturkanon vertraut sind. Was Literatur kann, lässt sich aber immer noch am besten anhand der Lektüre von Texten demonstrieren und erfahren.

Wenn jemand nach 25 Jahren ausscheidet, geht eine Ära zu Ende. Was würden Sie sich für die Zeit ohne Sie wünschen: lieber Kontinuität oder einen Bruch?

Das habe ich nicht zu entscheiden. Zum Glück für alle Beteiligten gibt es in Creative Writing viele unterschiedliche Ansätze, aber keine verordneten Rezepte. Wer literarisches Schreiben unterrichtet, muss herausfinden, wie es für sie oder ihn am besten funktioniert. Da kann man mittlerweile viele Bücher dazu lesen, aber letztlich muss es auch für einen selbst stimmen.

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