Über eine Welt, in der globale Krisen zum Alltag gehören, erzählt die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz in ihrem neuen Roman Tage im Mai. Die Pandemie im Rücken suchen dessen Protagonistinnen, Mutter und Tochter, nach dem verloren gegangenen Leben. Mit dem Krieg hat sich Marlene Streeruwitz zuletzt in ihrem Essay Handbuch gegen den Krieg (2022) befasst. Wie sich all das auf unsere Demokratie auswirkt und welche Bedeutung dies für das Schreiben hat, erklärt sie im Gespräch mit dem Freitag.
der Freitag: Ihr Schreiben umfasst nahezu 30 Jahre: Was hat Sie Ende der 90er-Jahre zum Schreiben gebracht?
Marlene Streeruwitz: Das Erkennen der Ungerechtigkeiten? Der Wunsch, nicht die besprochene, also beherrschte Person zu sein, sondern selbst
chtigkeiten? Der Wunsch, nicht die besprochene, also beherrschte Person zu sein, sondern selbst zu sprechen, dem Beherrschtsein zu entkommen.Sie waren immer eine gleichermaßen poetische wie politische Autorin, was Sie auch in Ihren Büchern nicht trennen. „Flammenwand“ zeigt sich ganz deutlich verbunden mit der Chronik der politischen Umstände in der Zeit des Schreibens. Wie geht beides für Sie zusammen?Jede Äußerung ist politisch. Der Versuch patriarchaler Intellektueller, eine Sphäre zu schaffen, in der das nicht gelten soll, ist eben patriarchal. Die Machtgeflechte, in denen wir in unseren liberalen und mittlerweile autoritären Demokratien leben, sind, nicht anders als zu religiöseren Zeiten, jeden Augenblick wirksam. Wir sind eben nicht mehr von Jenseitsängsten getrieben und halten uns selbst ruhig in der scheinbaren Säkularisierung unserer neoliberalen Leben. Ihre poetische Grundposition ist es, mittels Literatur Fragen zu stellen. Welche Fragen bedrängen Sie derzeit am meisten?Aus welchen alten Quellen sich Kriegsbegeisterung speist und was das für das Demokratische bedeutet.Frauen und deren Selbstbestimmung spielen für Sie eine große Rolle. Inwieweit betrachten Sie sich als Feministin?Ich bin Feministin in dem Sinn, als dass ich die Frage beantworten möchte, wie ich als Frau, die vom Patriarchat gedacht beziehungsweise konstruiert wurde, sich einer Sprache bemächtigen kann, in der ich/sie nun selbst denken und sprechen kann, ohne die Herrschaftsformen einer solchen Veränderung zu wiederholen. Die Erfahrungen im Umfeld der Pandemie waren ein Drehpunkt in Ihrem Leben und Schreiben. Was bedeutet das?Die Pandemie und noch mehr der Ukrainekrieg brachten zum Vorschein, wie wenig an Demokratischem wir zur Hand haben, um solche historischen Umbrüche zu bewältigen. Unbefragtes Regiertwerden ist das. Wir hätten in den 1980ern und danach Zeit gehabt, die demokratischen Instrumente zu entwickeln, die wir nun benötigten. Es einfach bei hierarchischen Vorgängen zu belassen, in denen Privatpersonen ihre privaten politischen Entscheidungen treffen können, ohne sich um die Einstellung der Regierten kümmern zu müssen oder zu wollen, scheint mir eine altmodische und vor allem militarisierte Einstellung zur Krisenbewältigung zu sein. Zudem erfüllt es die Sehnsucht von auch weiterhin nicht demokratischen Eliten nach Führerschaft.Sie bezeichnen das bedenkliche Staatsverständnis der Politik, das sich in der Pandemie gezeigt hat, als „einen Demokratieschwund von oben“. Dazu fällt mir die hilflose Frage ein: Wie weiter?Es wird um Mitbestimmung gehen. In der Pandemie konnte man uns noch Angst machen. Aber wenn das Wasser knapp wird und wir sparen sollen – wie sollen wir das ohne ein Verständnis voneinander machen? Und ohne Mitbestimmung? Wir hatten das für die Universitäten 1974 als Student:innen erkämpft. 1993 hat die ÖVP-Regierung das wieder abgeschafft. Vertane Chancen sind das, Demokratie zu lernen.Die Leipziger Buchmesse wird deutschen Lesern vermutlich bewusst machen, wie viele Schriftsteller:innen in deutschen Verlagen aus Österreich kommen. Warum spielt die österreichische Literatur eine so große Rolle in der deutschsprachigen Literatur?Wir haben das große Erbe jüdischer Autor:innen und Intellektueller um 1900, nachdem 1876 in der Donaumonarchie die Religionsfreiheit deklariert wurde und Juden zu gleichberechtigten Bürgern gemacht worden waren. Davor war es gar nicht so toll mit der österreichischen Literatur. Nach dem Zerfall der Monarchie ging es dann wohl um das Ringen, zu einer Identität zu kommen. Heute sind die Widersprüche zwischen all diesen anleitenden Mythen und Versprechungen und dem, was gelebt werden muss, eine treibende Kraft. Das Katholische spielt da weiterhin eine große Rolle. Wie überhaupt das Kulturelle so zäh an verlogenen Sinneinheiten festhält. Literatur als freie Rede kämpft hier immer noch gegen das Reaktionäre, das aus der Monarchie kommt und die Angst vor der Revolution pflegt, um an der Macht bleiben zu können. Die letzten drei ÖVP-Regierungen beschreiben das genau.Placeholder infobox-1