Schreibt man über Harald Kretzschmar, wird man noch einmal in die Zeit der DDR hineingezogen, ob man will oder nicht. Und man macht zum wiederholten Mal – allen zugereisten politischen Interpreten zum Trotz – die Erfahrung: Es gab viel mehr als eine DDR. Das wird sich gleich zeigen. Aber nicht die DDR ist hier die Hauptperson, sondern Harald Kretzschmar: einer der prominentesten, profiliertesten, potentesten Porträtkarikaturisten Deutschlands. Die DDR war nur ein Teil seines Lebens, gut, sie war Mittelteil. Es bleiben 30 Jahre bis heute mit Stapeln von Karikaturen und literarischen Porträts in einer Handvoll Bücher. Als aktiver Künstler wird er am 23. Mai 90 Jahre alt. Chapeau!
Ein 90-Jähriger ist alte Schule, ganz alte. Er darf das stolz sagen. Stu
sagen. Studiert hat er an der altehrwürdigen Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. In den Jahren von 1950 bis 1955, als dort durch die dunklen Gänge zwar nicht der Geruch von Formalin wehte, aber der Geist des Formalismus, was annähernd zusammengehört. Das geschah wider Willen der meisten, Professoren wie Studenten, aber nicht ihres Rektors Kurt Massloff. Kretzschmar hatte Glück, seine Professorin war Elisabeth Voigt.Schon bei Nennung dieser beiden Namen, Elisabeth Voigt und Kurt Massloff, könnte man über zwei gegensätzlicher nicht denkbare Gebilde mit Kürzel „DDR“ schreiben. Die Voigt als Schülerin von Carl Hofer und Vertraute von Käthe Kollwitz soll mal zu ihm gesagt haben: „Kretzschmar, das geht bei Ihnen viel zu schnell, das kann ja nix werden!“ Der Gerüffelte zitiert es augenzwinkernd selbst, fügt an, dass für seine Sonderbegabung als angehender Karikaturist die Leipziger Profs den richtigen Blick nicht hatten.Karikieren? Charakterisieren!Welche Frage fällt mir zu einem Porträtkarikaturisten zuerst ein: Wie hältst du es mit der Ähnlichkeit? Der Künstler Kretzschmar antwortet: „Das Wort Ähnlichkeit ist eine beleidigende Unterstellung. Nur der Laie hält gewissenhaftes Abzeichnen für den Königsweg.“ Nächste Frage! Wie viel muss eine Karikatur übertreiben? Der von mir Porträtierte schüttelt den Kopf über meinen Unverstand: „Karikieren heißt Charakterisieren!“ Er klärt mich auf, dass viele denken: Karikieren habe etwas mit Verzerren zu tun. Je größer die Nase, je besser das Porträt. Darüber muss der Alte selbst lachen und verschluckt sich beinah. Er sieht sich im Spiegel eines Kollegen, wenn er über den berühmten E. O. Plauen schreibt: „Erstens geht es um das skizzenhafte Aufspüren von Wesentlichem mittels Strich und Linie und zweitens um das abstrahierende Auf-den-Punkt-Bringen.“ Kretzschmars Abkunft von der alten Schule, glaube ich, ist geklärt.Es stößt ihm auf, dass Karikaturisten in den Zeitungen von heute kaum noch zum Zuge kommen. Stimmt, die Zeitungen haben den immer rarer werdenden Platz an die Fotoredaktion abgegeben. Wenn doch Platz bleibt, sagt er, kommen gefällige Schnellzeichner. Kein Alter bleibt ohne Bitternis, denke ich. „Einsam fühle ich mich durch das Ausbleiben einer nennenswerten Nachfolge. Meine begabten Schüler aus den 70er Jahren waren die Letzten, danach kam nichts mehr“, sagt der Jubilar mit Entschiedenheit im Ton.Etwas erscheint mir als Laudator selbst bitter: Der Mann, Harald Kretzschmar, der sich seit 1955 zu den freien Mitarbeitern der Satirezeitschrift Eulenspiegel rechnen durfte und bis 1991 zum festen Stamm der Zeichner dort gehörte, bleibt beim Wikipedia-Eintrag vom Eulenspiegel unerwähnt. Vergessen? Warum? Dort fing für ihn alles an. Der Erfolg und der Ärger. In der DDR – von der es viele gibt, ich sagte es – ging ja meist beides Hand in Hand.Eine Geschichte, die er mir erzählt, geht so: „Der damalige Chef Heinz H. Schmidt wollte etwas Besonderes für die Silvester-Nummer 1957. Ich sollte den Ministerrat karikieren. Grotewohls erster Stellvertreter damals war Walter Ulbricht. Er hatte als Einziger darauf bestanden, das Ergebnis des Karikierens vor dem Druck noch zu sehen. Daraufhin wurde der Redaktion die Ablehnung einer Veröffentlichung übermittelt. Aber der Eulenspiegel-Chef, dessen Idee es war, ließ das nicht auf sich sitzen. Als er für eine Neujahrsumfrage fotografiert wurde, nahm er meine Ulbricht-Karikatur für das Foto in die Hand, worauf sie dann auch zu sehen war, und schob in der Zeitung noch die flapsige Bemerkung nach: ‚Wie viel sich von selbst erledigt.‘ Das brachte ihm anderntags seine Kündigung und die des Chefredakteurs der Zeitung, in der das Foto erschienen war, gleich mit.“Wenn ich diese Geschichte von Kretzschmar höre und sie umrechne auf fast 40 Jahre Eulenspiegel, dann befürchte ich: Die Zensur wird es ihm in der DDR-Zeit als Porträtkarikaturisten schwer gemacht haben! Der fast 90-jährige Mann mit dem grauen Bart schüttelt energisch den Kopf: „Ich war dankbar dafür, dass publizistische und künstlerische Qualität zehnmal wichtiger dabei waren als Parteitreue. Den Ärger über abgelehnte Zeichnungen verdaue ich mit der täglichen Darmscheißerei. Da muss ich nicht ein Leben lang ein Trara draus machen.“Von Ostfriesland bis SüdtirolZensur nennt mir Kretzschmar eine „Irrtumsvokabel“ und bringt sie in Anschlag auf die Karikaturistenszene heute: „Jede nicht untergebrachte kritische Zeichnung ist heute ein Opfer einer imaginären Zensur. Zensur findet immer statt, in dem Moment, wo eine Zeichnung gedruckt wird – oder eben nicht.“ Und der Alte lässt ein Schwesterwort von Zensur in unserem Gespräch durchgehen: die Selbstzensur. Mit ihr, bekennt er, hat er reichlich zu tun gehabt: „Eine gar nicht feige, sondern das Mögliche anvisierende Selbstzensur eröffnete mir vor allem am Anfang und am Ende der DDR ungeahnte Freiräume. Der Zensor wollte schließlich Kritik – fragte sich nur, wie viel und wie weit oben.“Ich verstehe ihn. In der DDR mit den vielen Gesichtern war das Mögliche jeden Tag etwas anderes, schwankend, wie ein Aktienkurs heute. Also haben sie bei der Eule nicht das Maximale anvisiert, denn das ging nicht, aber mit Selbstzensur das Mögliche. Kann man heute als Kompromisslertum verurteilen, aber es war so. Kretzschmar bekam zwar nicht in der Neujahrsnummer 1958 seine Ulbricht-Karikatur in die Eule, aber im Juni 1963 konnte ein nicht minder pfiffiges Blatt erscheinen. Jetzt war der Bart nicht ab, sondern kam ran. Seitdem ist er Träger seines bekannten Vollbarts.Nun, die DDR ist Geschichte. Was war seit der Friedlichen Revolution, was ist heute? Spiegel, FAZ und Die Zeit wollten etwas sehen, was er nicht sah, und haben seine Kunst nicht genutzt, haben ohnehin kaum Ostautoren gedruckt, sagt er. Kurze Zeit war er in den 90ern als Schnellzeichner auf Vermittlung eines Herrn Koppert aus Köln von Ostfriesland bis Südtirol auf Reisen. Dann hat er sich gesagt: Wen habe ich nicht schon alles kennengelernt! Hier bei mir in Kleinmachnow und überhaupt in meinem Leben. Er hat über die, die seinen Weg gekreuzt haben, Bücher gemacht. Jetzt kam ihm zugute, dass er seit den 70er Jahren seine Karikaturen selbst mit Unterschriften versehen hatte: kleine Porträts. Anfangs zehn Zeilen. Langsam entwickelten sich daraus literarische Porträts. In Buchform lauten ihre Titel: Wem die Nase passt (2001), Paradies der Begegnungen (2010), Mimen und Mienen (2011), Treff der Originale (2016) und zuletzt Stets erlebe ich das Falsche (2017). Zum genauen Strich setzt er das präzise Wort. Er hat mit seinen „nachgerufenen Hinterherbemerkungen“ etwas Großartiges geschaffen: ein Archiv der Originale. Für Originale besitzt er einen Nerv. Ist er doch selbst eines.Weil sich nichts von selbst erledigt hat, wie er sagt, schafft er daran noch heute. Neu ist der „philosophische Cartoon“, daneben immer mal wieder ein Porträt-Stenogramm. Alles mit scharfem Blick und wachem linken Geist. Beides gehört zu einem großen Porträtkarikaturisten. Er besitzt es noch mit 90.Placeholder authorbio-1