Die Gegenwart besitzt ihren Grund in der Vergangenheit. Lange kann sie unsichtbar bleiben, getrost vergessen, aber plötzlich ist sie da. Wie ein Messer. Christa Wolf eröffnet ihren 1976 erschienen Roman Kindheitsmuster mit der Feststellung: "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd." Michael G. Fritz macht es in seinem neuen Roman Die Rivalen nicht anders: Er sucht in der Gegenwart nach Spuren der Vergangenheit. Es ist der dritte Roman des 1953 in Berlin geborenen und heute in Dresden lebenden Autors. Es scheint ein zentrales Motiv seines Schreibens zu sein, denn in Rosa oder Die Liebe zu den Fischen nahm er sich schon einmal dieses Themas an. Dass er es mit seiner Lebenserfahrung im Spannungsfeld von vergangener DDR und heutiger Bundesrepublik findet, ist nur allzu verständlich. Er setzt damit das Interesse älterer Autoren in seiner Generation fort - die Suche nach zeitgeschichtlich relevanten Stoffen, um uns angesichts eines Übermaßes an Buch gewordenen Beziehungsanalysen Geschichtsvergessenheit vorzuhalten. Fritz macht es sehr geschickt, indem er das eine mit dem anderen verbindet: die Rivalität um eine Frau, deren Ausgang von einer "alten Geschichte" entschieden wird.
In Die Rivalen entsteht aus dem plötzlichen Einbruch von verdrängtem Vergangenen für eine der beiden Hauptfiguren das Verhängnis. Als Albert im Feierabendgedränge auf der Berliner Friedrichstraße Wilhelm entdeckt, sticht das Messer Vergangenheit zu. Der Schmerz hält Albert davon ab, auf Wilhelm, mit dem er einst Blutsbrüderschaft getrunken hat, zuzugehen. Im Gegenteil - Albert wechselt die Straßenseite. Dieser Eröffnung folgt die Rückblende. Mehr als 30 Jahre zurückliegende Erinnerung kehren zurück: Rand-Berlin, der Osten, am Zeuthener See, ein heißer Sommer, das Jahr 1968. Unterbrochen von Fußballtraining und Stadionrunden fand zwischen den beiden Jungs ein Wettkampf um Bettina statt, der Tochter des alten Pleschkat. Albert lag gut im Rennen, aber dann muss er in der entscheidenden Stunde den Fernsehapparat zur Reparatur bringen. Die Eltern wollen im Westfernsehen die Bilder von den russischen Panzern in Prag sehen. In dieser Stunde gewinnt Wilhelm bei Bettina.
Das soll der Grund sein, warum Albert 30 Jahre später Wilhelm aus dem Weg geht? Warum er in den folgenden Wochen verzweifelt nach dem Jugendfreund forscht, herausfindet, dass der Schriftsteller geworden ist und demnächst ein neues Buch veröffentlichen wird? Deshalb wird Albert im Bett bei seiner Frau Carola versagen und in seinem Schlafzimmer wilde Gespräche mit dem unsichtbaren Wilhelm führen? - Fritz entfaltet seine Geschichte sehr behutsam, lässt sich Zeit für atmosphärisch dichte Sommerbilder. Um so weniger das Geheimnis enthüllt wird, um so mehr baut sich Spannung auf. Der Leser wird im Wechsel aus Handlung in der Gegenwart und Erinnerung in eine Geschichte hineingezogen, und er erlebt, wie sie Albert die Beine weghaut. Denn sie liegt nicht in der Rivalität um Bettina, sondern sie ereignete sich nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. Die Staatsicherheit hatte Albert vorgeladen und der verriet, wie er bei Wilhelm Zeitungen und Flugblätter gesehen hat. Das kostete dem Blutsbruder das Studium. Plötzlich weist Alberts paranoides Verhalten nicht mehr in eine Richtung, wo nichts ist, sondern auf einen Verrat. Nie hat er mit dem anderen darüber gesprochen. Klassentreffen blieb Wilhelm fern oder lebte gar nicht mehr in ihrem Land.
Michael G. Fritz erzählt die Geschichte des Verrats sehr sachlich, gibt ihr fast den Charakter einer Episode, freilich einer, die nachwirkt. Dem Autor geht es um die Konfrontation beider Hauptfiguren heute und um die Beobachtung, wie tief in sie hinein die verdrängte Vergangenheit schneidet. Er führt seine Handlung geschickt zu einer erneuten Rivalität zwischen den beiden Männern. Die stehen sich dazu nicht einmal gegenüber. Im Billard würde man sagen: Sie spielen über Bande. Fritz benutzt dazu geschickt die Figur von Alberts Frau Carola. Während Albert nach dem Auftauchen Wilhelms für sich selbst und besonders seiner Frau gegenüber an Sicherheit verliert, kommt sie in Kontakt mit Wilhelm. Diese Figurenverbindung gelingt so plausibel, dass sie nicht als erzählerisch erzwungene Konstruktion erscheint. Carola betreibt eine Galerie, die dringend mehr Besucher braucht und verfällt auf den Plan, das Kunstgeschäft mit Schriftstellerlesungen anzukurbeln. Wilhelm soll ihre Premiere sein. Doch spätestens an dieser Stelle verliert Albert den Grund unter den Füßen. Das Erzählen bricht immer wieder subtil aus dem Realismus heraus und nimmt Alberts Angstphantasien in den Blick.
Bemerkenswert an dieser literarisch entwickelten Männer-Rivalität ist, dass sich hier nicht Gut und Böse gegenüberstehen, Opfer und Täter. Eine so vordergründige Debatte führt der Autor mit dem Roman nicht und hat keine Absicht, sich in offene Stasifälle hineinzubegeben. Er benutzt den Stoff, um zu zeigen, wie sehr Gegenwart mit Vergangenheit kontaminiert ist. Und noch ein anderer Schachzug gibt diesem Roman Überraschung und literarisches Format: Wilhelm ist alles andere als ein makelloser Held. Ein Frauenheld, das ist er. Und Albert ist auch in der zweiten Runde ihrer Rivalität unverändert der defensive, grüblerische Partner. Dass wieder um eine Frau gespielt wird, diesmal um seine, lässt dem Leser die Möglichkeit, sich auf Alberts Seite zu schlagen. Denn es ist zu vermuten, dass er auch dieses Mal keine Karten hat, die zum Sieg reichen.
Ein Roman, in dem ein Thema aufgeboten wird, das nie abzugelten ist. Und trotz des Rückgriffs auf DDR-Vergangenheit besteht keinerlei Grund, es auf diesen Teil deutscher Geschichte zu begrenzen. Dass Fritz für sein fünftes Buch einen fünften Verlag finden musste, spricht nicht gegen den Autor. Sein Buch zeigt es.
Michael G. Fritz: Die Rivalen. Roman. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2007, 160 S., 16 EUR
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