Ulrike Draesners „Die Verwandelten“: Die Kraft einer Frau
Vertreibung Das Schicksal einer deutsch-polnischen Familie: Die Schriftstellerin und Lyrikerin Ulrike Draesner erzählt im dritten Teil ihrer Trilogie von Krieg, Flucht und Vertreibung. In „Die Verwandelten“ wirkt das blutige 20. Jahrhundert nach
Fein und dennoch kraftvoll ist die Sprache der Lyrikerin und Autorin Ulrike Draesner
Foto: Dominik Butzmann
Erlittene Gewalt, so die Hoffnung, verliert Macht über Menschen, wenn sie erzählt ist. Für die 1962 in München geborene, vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Lyrikerin Ulrike Draesner ist es ein Grundmotiv ihres Schreibens. Im dritten Teil ihrer Trilogie über Krieg, Flucht und Vertreibung ist das „nachwirkend Gewaltsame“ immer noch aktiv. Es reicht hinein in nachfolgende Generationen und lässt „Nebelkinder“ heranwachsen, die so heißen, weil sie im Nebel ihrer Geschichte leben müssen. Die Handlung in Draesners neuem Roman Die Verwandelten greift dieses Mal weit aus, erzählt werden die verzweigte Geschichte und das Schicksal einer deutsch-polnischen Familie. Ulrike Draesner hat sich viel vorgenommen in diesem ü
mmen in diesem über 600 Seiten starken Roman.Alles beginnt mit einem Vortrag. Die Anwältin Kinga, Spezialistin für Erbrecht, soll vor Rechtsmediziner:innen und Jurist:innen über ihre Mutter sprechen. Ihr Vortrag ordnet sich einem Projekt zu, in dem Zukunftsformen von Elternschaften erkundet werden sollen. Kinga ahnt nicht, dass sich ihr nach dem Vortrag eine Frau vorstellen wird, die ihre Halbcousine ist. Bisher wollte Kinga nicht wissen, warum sie von der Mutter eine Wohnung im polnischen Wrocław erbte. Mit dem Auftauchen von Dorota entwickelt sie Neugier, den polnischen Teil ihrer Familie kennenzulernen.Es wird ein Horrortrip in das 20. Jahrhundert. Kinga begegnet Menschen, die „verwandelt“ worden sind. Der Roman wird selbst labyrinthisch. Da ist Gerhild, die eigentlich Alissa heißt. Ihre Mutter war ein Dienstmädchen in Breslau und wurde vom Mann des Hauses verführt. Um die Schwangerschaft zu vertuschen, veranlasst die betrogene Frau, dass die Hausangestellte ihr Kind in einem nationalsozialistischen Lebensbornheim zur Welt bringt. Zwei Jahre vor Ende des Kriegs wird das Kind zur Adoption freigegeben und kommt als Gerhild zu deutschen Eltern. Alissa, Tochter einer polnischen Mutter, später Gerhild, ist die erste Verwandelte im Roman.Die Zweite ist Walla, Mutter von Kingas Halbcousine. Walla war die ersten 17 Jahre ihres Lebens über Renate, Tochter eines deutschen Ehepaars aus Breslau. Dass sie auch die Halbschwester von Alissa ist, davon wissen beide zunächst nichts. 1945 hätte Renate Breslau verlassen müssen, denn es erlosch nicht nur der Name der Stadt, sondern auch das Aufenthaltsrecht der Deutschen in Polen. Das „nachhängend Gewaltsame“, der Krieg der Deutschen, war der Grund. Renate, „Reni“, hat Glück. Sie lernt einen polnischen Oberst kennen. Nicht nur Polen wird wiedergeboren, auch die deutsche Reni mit echten Papieren als polnische Walla. Sie bekommt von zwei Männern vier Kinder, eines davon ist Dorota, die Kinga den polnischen Teil ihrer Familie vorstellt.In den Familienverhältnissen muss man sich als Leser üben. Dabei ist hier schon einiges ausgelassen, etwa die mutmaßliche Tötung Jesches, des ältesten Kindes von Walla, durch die polnische Stasi in der Solidarność-Zeit, das Auftauchen der jüdischen Ehefrau des polnischen Obersts, der sich aus Achtung vor dem Lagerschicksal seiner Frau von Walla zurückzieht, mit der er zwei Kinder hat. Überall wirkt erlittene Gewalt nach, dabei ist noch gar nicht geredet von den Vergewaltigungen der Frauen durch russische Soldaten und andere Männer.Szenen, deren Brutalität beim Lesen schmerzt: „Alles an mir fühlte sich größer an, als es sein sollte. Stücke meines Körpers drangen aus der zerrissenen Bluse, während mein Körper ab der Taille nach hinten verschoben schien, so sehr wollte er nicht mehr da sein.“ Wie bei diesen Verwandelten Gewalt als Schmerz nachwirkt, Wunde bleibt, auch epigenetisch über eine, zwei Generationen, behauptet Ulrike Draesner in ihrem Roman nicht, sie lässt es den Lesenden erfahren. Und sie macht deutlich, dass diese Gewalt oft aus Scham zu Schweigen wird.Das blutige 20. Jahrhundert ist im 21. Jahrhundert nicht zu Ende. Die einzige Chance besteht darin, alles zu erzählen. Im kurzen Nachwort reicht die Autorin dafür den Schlüssel nach, einen Satz als Motto, den sie bei Sigmund Freud gefunden hat: „Wenn jemand spricht, wird es hell.“Nach Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014) und Schwitters (2020) geht es im dritten Teil um die Verschränkungen polnischer und deutscher Identitäten. Dieses Hauptthema ist in seiner Grundkontur leicht auszumachen, deshalb wird es – wie es scheint – von der Lyrikerin Ulrike Draesner noch einmal in die Werkstatt geholt, was im epischen Kontext bisweilen zu lyrisch anmutenden Verrätselungen führt. Die Abschnitte über ein Wurmloch als imaginäre Brücke in Zeit und Raum oder die kleingedruckten Kapitelanfänge geben sich bewusst geheimnisvoll.Kein Nebelkind bleibenEs ist wohl unvermeidlich, dass die Schriftstellerin bei solch großem Vorhaben die Figuren nicht wirklich frei durch den Roman laufen lassen kann, sondern ihnen Stationen vorgibt, die sie anzusteuern haben. Alles dreht sich um „GS“, was im Roman für das Große Schlimme wie das Große Sinnvolle steht. Zu viele Instrumente verdecken jedoch die Melodie in diesem Roman oder machen sie zum Marsch.Die beiden Mütter von Kinga und Dorota sind Spiegelfiguren. Dass auch noch Kingas Tochter Flummy, ein Adoptivkind aus Tahiti, im Verhältnis zu ihrer neuen Großmutter zur Spiegelfigur gemacht wird, ist literarisch am wenigsten abgedeckt. Flummy erscheint im Roman selbst so gut wie nie als handelnde, denkende, fühlende Figur. Was fehlt, wird behauptet. Was vorhanden ist, manchmal unnötigerweise kommentiert.Davon abgesehen durchziehen den Roman viele Goldadern. Wie das Sterben der über 100-jährigen Gerda im Altenheim erzählt wird oder der überraschende Tod Alissas. Eindrücklich der Fluchtversuch von Reni und ihrer Mutter in den letzten Kriegswochen, der sie der Gewalt in die Arme treibt. Es sind, so schmerzlich sie sich gestalten, erzählerische Glanzpunkte.Da sind Worte, die leuchten wie Goldstaub im Text: erfundene, lyrische, zusammengeklebte, aus der polnischen, schlesischen oder aus Familiensprache. Aus Gedanken und Sätzen steht die Kraft von Frauen auf, die sich mit einem „Luftwurzeldasein“ nicht abfinden, nicht für immer Nebelkinder bleiben wollen.Das Ende der Soldaten im Lazarett – so heißt es – „trägt weibliche Namen“. Drei Worte, ein halber Satz, der eine ganze Geschichte durchscheinen lässt. Gemeint sind die Rufe der Sterbenden nach den Schwestern bei ihren Vornamen.Als Reni von ihren Eltern verlassen wird, tröstet sie sich damit, dass sie ohne Vergangenheit die Chance hat, endlich frei zu werden. Ein Trost, dem Reni zunächst auf den Leim geht, bevor sie ihm zu widersprechen lernt. Vieles läuft auf das zu, was Kinga wahrnimmt, als sie ihrer polnischen Familie gegenübersteht: „Es war nicht einfach, die Kraft einer Frau zu sehen. Die Kraft war das Unsichtbarste an einer Frau. Oft wurde sie versteckt. Oft kannte man sie nicht einmal an sich selbst. Oder fürchtete sich vor ihr.“ Auch dieser Gedanke drängt zur Hoffnung, dass das „nachhängend Gewaltsame“ an Macht verliert, wenn alles erzählt ist. Die Verwandelten wissen, wer sie gewesen sind. Das – will der Roman sagen – ist die Voraussetzung dafür, die bis heute nachwirkende Macht des blutigen Jahrhunderts durch Erzählen zu brechen.Placeholder infobox-1