Vater, Tochter und die Nitribitt

Verloren Judith Kuckarts neuer Roman "Kaiserstraße" spielt auf einer Zeitschicht

Wenn es im Klappentext heißt: "Fünf Jahrzehnte begleitet Judith Kuckarts großer Roman das Leben von Leo und Jule Böwe", dann kann dieses Versprechen auf eine falsche Fährte führen. Spätestens seit Jules Auftritt im Roman stattgefunden hat, erwartet der Leser nach dieser Klappentext-Einstimmung wahrscheinlich eine Vater-Tochter-Geschichte. Von Seite 114 an sogar eine dramatische, denn auf dieser Seite erklärt die siebenjährige Jule nach Ansehen der TV-Bilder vom toten Anti-Schah-Demonstranten Benno Ohnesorg: "Papi, wenn ich groß bin, erschieß ich dich auch". Aber im weiteren Verlauf der Beziehung erschießt Jule ihren Vater nicht, sondern verliert ihn immer weiter aus ihrem Leben. Als die Mutter stirbt, ist die Tochter gerade beruflich in den USA, und der Vater unterlässt einen Anruf bei ihr. Einmal trifft sie ihren Vater noch, aber es ist purer Zufall. Frühmorgens in Düsseldorf in einer der ersten Straßenbahnen, aber er schläft und sie spricht ihn nicht an. Ein zweites Mal - wieder Zufall - erlebt sie auf dem Bahnhof von Karlsruhe, wie ihr Vater ausgerufen wird, aber nicht auftaucht. - Nur eines trifft zu vom Klappentext-Satz: Judith Kuckarts neuer Roman Kaiserstraße sei ein "großer Roman", aber das muss man sich nicht vom Verlag sagen lassen, oder?

Dass Judith Kuckart eine Autorin ist, die große Romane schreiben kann, wusste man eigentlich bereits nach ihrem Roman Der Bibliothekar (Freitag 13/1998). Die darin erzählte Beziehung eines Mannes jenseits der 50, der schon aus dem Mund nach Büchern riecht, zu der halb so alten Jelena, blieb wegen ihrer plausiblen Wundersamkeit lange im Kopf. Das Wundersame fand in der Sprache des Romans statt. Wer Geschichten von Menschen erzählt, die sich kleiden wie wir oder auf andere Weise uns ähnlich sind, hat das Handicap, dass er nur die Sprache dafür hat, die uns allen aus dem Mund tropft. Judith Kuckart kann Sprache in Kunst verwandeln. In Kaiserstraße besitzen ihre Sätze feste Form und verzweigen sich selten. Die Klarheit der Hauptsätze erspart der Autorin die Verwendung von Poliermitteln wie Bildern und exotischen Wörtern. Judith Kuckarts Sätze zerfasern nicht und behalten ihre Kraft. Blitzschnell wechselt das Erzählen mit hartem Schnitt von Handlungspassagen zu den Figuren. Auch dann bleiben es meist Hauptsätze. Deren wissende Klarheit ist kaum noch zu überbieten. Als Jule einmal zu früh von einer Dienstreise aus Rom nach Berlin in ihre Wohnung zurückkehrt und ihren Freund mit einer Anderen antrifft (es könnte auch "ein Anderer" sein, Jule hat nicht den Mut, genau hinzuschauen), da heißt es im Roman: "Sie wäre aus dem Fenster gesprungen, wenn sie Johann geliebt hätte. Aber dem war nicht so. Das mit Johann, das galt schon lange nicht mehr, das dauerte nur noch". Und in einer anderen Szene, in der Jule einem fremden Mann gegenüber sitzt, wird erzählt: Sie war "längst einverstanden damit, dass jedes Gespräch mit einem Menschen, den man kennenlernte, ein Bewerbungsgespräch war. Auch im Privaten."

Diese Jule, die in Sprache über 40 Jahre existiert, besitzt überhaupt nicht die Kraft, ihren Vater zu erschießen, sie besitzt nicht mal einen Grund. Dabei ist das Leben von Leo Böwe wirklich ein kleines, dass man als Tochter hassen könnte. Begonnen hat Böwe (Jahrgang 1937) als Waschmaschinenvertreter und endet gewissermaßen auch als Vertreter, obschon er inzwischen politische Karriere macht, erst im Westen und nach dem Fall der Mauer auch noch im Osten. Wäre Leo nicht wegen einer Affäre mit der Sekretärin des Parteivorsitzenden um 30 Plätze auf der Wahlliste abgestürzt, würde sein Leben heute in irgendeinem Landtag oder gar im Bundestag weiter laufen.

Um welche Leistungen ist das Leben seiner Tochter besser? Mit 17 wird sie Mutter und gibt das Kind weg, ohne es gesehen zu haben. Mit 39 wird sie noch einmal Mutter von einem Jan, auf den sie vor 22 Jahren aufpassen musste: Da war Jan gerade drei Monate alt war und Jule 17. Jule führt nicht die Doppelleben ihres Vaters, der immer irgendein Verhältnis hat. Ihr Unglück besteht darin, nicht das Leben zu führen, das sie führen will, sondern irgendeines, das nach all den gescheiterten Versuchen für sie übrig bleibt. Welches Leben das ist, sagt ihr ein Vorgesetzter: "Ihnen ist doch nur kalt, in ihrer hoch aufgeschossenen Existenz ohne Wurzel, in der Sie nur Wurzeln simulieren, bürgerliche Werte wie Kultur und Geborgenheit, und dafür mit Geld zahlen." Wenn es den Traum noch gibt, es besser zu machen als Vater und Mutter, dann ist er in Judith Kuckarts Roman Kaiserstraße ausgeträumt.

Dabei suggeriert die Komposition des Romans eine Aufwärtslinie zu gelingendem Leben. Fünf Etappen, die fast 50 Jahre auseinander liegen, bilden fünf Erzählflächen: 1957, 1967, 1977, 1989 und 1999. Das Erzählen wird nicht auf eine Folge einzelner Jahrestage begrenzt, wie in Arno Geigers Roman Es geht uns gut aus dem vergangenen Jahr, sondern auf eine Zeitschicht oder auf Fotos von einem Film aus diesem Jahr. Hineingenommen in das Erzählen finden sich zeitgeschichtliche Ereignisse dieser Jahre. Alles beginnt mit dem Mord an dem Callgirl Rosemarie Nitribitt 1957, später sind es die Demos gegen den Schahbesuch, an denen sich die 68er-Bewegung entzündet, auch der die bleierne Zeit beendende Mauerfall taucht 1989 im Erzählen auf und vieles andere mehr.

Warum das?, wäre zu fragen und: Was bringt es dem Roman? In dieser Frage liegt sein wichtigstes Motiv und man wird es nicht präzise benennen können. Direkte Kausalität lässt sich nicht erkennen. Das Zeitgeschehen hinterlässt im privaten Raum der Böwes keine auswertbaren Spuren. Trotzdem scheint das Nebeneinander für den Roman wichtig. Judith Kuckart kann das Leben von Leo und Jule Böwe auf einem Zeitstrahl erzählen. Die Zeit vergeht, und das Leben vergeht, aber synchron ist da auf den ersten Blick nichts. Die Tankstellen haben keine Dächer mehr, die aussehen wie Kekse, und das Leben der Jule Böwe hat keine Wurzeln mehr. Der Vater ist abgetaucht bei seinen Zweit- und Drittfrauen und Jule versteht mit der Freiheit nicht umzugehen. Sie beschert ihr eine ungewollte Schwangerschaft mit 17, Jobs und Karriere, Männer mit viel Geld, aber wenig Liebe. Besteht doch Kausalität? Der Roman begibt sich auf Sinnsuche oder besser: auf die Suche nach dem verlorenen Sinn. Einen abwesenden Vater kann eine verlorene Tochter nicht erschießen, im Leben nicht, das seine Wurzeln verloren hat. Der Leser kann entscheiden, ob er Kaiserstraße lieber als Familienroman oder als Gesellschaftsroman lesen will. Beides ist möglich - und beides macht ihn bitter.

Quer durch die 300 Seiten verläuft die titelgebende Kaiserstraße, die in den Jahren ihr Gesicht verändert und am Ende nicht mehr aussieht, wie zu der Zeit, als Leo in sie einzog. Übrigens handelt es sich nur um die kleine Kaiserstraße, nicht um die am Frankfurter Hauptbahnhof, wo die Nitribitt lebte und starb. Vielleicht verführte diese Frau Leo zu seinem Doppelleben. Vielleicht wirkt sie so tief in sein Leben hinein, weil Leo - der nie der Nitribitt begegnet ist - glaubt, von ihrem Mörder angesprochen worden zu sein. Vielleicht gab es doch einmal eine Synchronizität der Ereignisse. Vielleicht besitzen sie doch gemeinsame Wurzeln: Vater und Tochter. Am Ende findet sich eine kleine Bestätigung dafür, wenn Jule nach der Nitribitt recherchiert, was der Vater auch schon getan hat. In diesem Moment ist sie die Tochter ihres Vaters. 50 Jahre Republik und für die Böwes nichts gewonnen.

Judith Kuckart: Kaiserstraße. Roman. DuMont, Köln 2006, 314 S., 19,90 EUR


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