Mit dem letzten Satz des Buches endet das Geheimnis. Der österreichische, mehrfach ausgezeichnete Autor Arno Geiger, 54 Jahre alt, dessen Bücher sich hundertausendfach verkaufen, beendet ein jahrzehntelanges Doppelleben. Und so, wie er davon erzählt, Authentisches aus seiner Biografie einwebt, Titel seiner Romane oder überprüfbare Ereignisse, darf man das Vertrauen haben, dass Geiger tatsächlich ein Geheimnis offenbart, er ein „Vagabund, ein Stadtstreicher, ein Lumpensammler“ war, „ein Niemand und weiter nichts“.
Auf Streifzügen durch Wien findet Geiger Bücher in Bananenkisten, er findet Briefe, Tagebücher und Postkarten in Containern. „Glücklich“ nennt er sein Geheimnis, weil festgestellt, dass im Mü
im Müll die Wahrheit wohnt, er entdeckt, dass andere Menschen auch ein kompliziertes Leben führen. Anfangs spürte er durchaus Scham, im Abfall anderer Menschen zu wühlen, aber dann hat ihn der Dokumentarfilm Die Sammler und die Sammlerin der Ungarin Agnès Varda ermutigt. Ihren Gedanken über das Sammeln als Kulturtechnik folgt Geiger: „Immer fällt irgendwo etwas ab, ein Rest, um den es schade wäre, wenn er verlottern, verrotten oder verschrottet würde. Agnès Varda teilte mir mit, es finde sich auch im Wertlosen ein Reichtum, wenn man nur willens ist, ihn zu suchen.“Die Macht des TatsächlichenManchmal ist dieser Reichtum ein realer. Einmal findet der Autor ein Bündel lithografierter Postkarten der Wiener Werkstätte. Durch Zufall trifft er den Besitzer eines Auktionshauses, der die 40 Postkarten in eine Auktion nimmt. Von dem Erlös kann Geiger, vielleicht Mitte 20 ist er da, ein halbes Jahr seinen Lebensunterhalt als namenloser Schreiber bestreiten. Hin und wieder geht er mit seiner Freundin auf den Trödelmarkt, wo sie die gefundenen Bücher anbieten. Sie bringen oft erstaunlichen finanziellen Gewinn. Aber der wirkliche Reichtum zeigt sich in etwas ganz anderem. Weil er die meisten Briefe und Tagebücher liest, eröffnen sich dem Schriftsteller fremde Leben. Die Funde geben dem Schreibtischmenschen Lebenskenntnis und gleichen – wie er schreibt – seinen Mangel an Gewöhnlichem aus.Die Lektüre von Weggeworfenem wertet er nicht als Voyerismus, denn er kenne die Verfasser und ihre Adressaten nicht und werde sie nie kennenlernen. Als er einer Freundin sein Doppelleben beichtet, nennt er zuerst den Gewinn für ihn als Autor: „Ich berichtete von den zahllosen, in den Jahren zuvor gelesenen Briefen, und dass ich viel gelernt hätte, sprachlich, denn die Sprache erzähle von ihrem alltäglichen Gebrauch, im Guten wie im Schlechten. Und handwerklich: Dass das beherrschende Prinzip im Leben der Menschen die Unordnung sei.“Der Schriftsteller Arno Geiger erhebt sich quasi wie Phönix aus dem Müll, denn 2006 gewinnt er noch relativ unbekannt den damals gerade erst geschaffenen Deutschen Buchpreis. Da ist er 37 Jahre alt. Aber nicht nur das. Er gewinnt ihn gegen Daniel Kehlmann und dessen Roman Die Vermessung der Welt, auf den die meisten Kritiker gesetzt hatten. Die Rahmenhandlung von Es geht uns gut ist die Entrümpelung einer ererbten Villa, bei der der Enkel auf die von Österreichs Geschichte kontaminierte Vergangenheit seiner Familie stößt. Vermutlich hätte der Roman ohne Geigers versteckte Existenz nie geschrieben werden können. Der Preisträger, der danach in Talkshows gefeiert und ausgefragt wird, löst sein Geheimnis nicht auf, fürchtet allerdings künftig bei seinen „Runden“ durch Wien erkannt zu werden. Was allerdings nicht passiert. Er zieht die Mütze etwas tiefer ins Gesicht.Der entscheidende Gewinn bei den Beutezügen ist sein Erleben der Macht des Tatsächlichen. Bei einem Seitenblick auf andere Literatur nennt er Stilisierung Lüge. Um ihr zu entgehen, hat er für den Roman Unter der Drachenwand Tausende Soldatenbriefe gelesen. Die ersten waren Zufallsfunde im Müll: Kinderbriefe, Elternbriefe, Behördenbriefe.Seinen Kollegen Philip Roth beschreibt er als einen, dem „lebend das Leben ausgegangen war und der am Ende Literatur schrieb, die das Lebendigsein nur fingiert“. Geiger setzt dagegen einen Aphorismus von Arthur Schopenhauer: „Daher nun ist die erste, ja, schon für sich allein beinahe ausreichende Regel des guten Stils diese, dass man etwas zu sagen habe.“ Damit berührt er einen neuralgischen Punkt von Literatur, nicht nur heute. Wer das Schreiben zum Beruf macht, weiß bald nicht mehr, ob er etwas zu sagen hat oder einfach nur schreibt. Wenn Geiger wie bei dieser Bemerkung zur Regelhaftigkeit seiner Anmerkungen übergeht, ist er kühn, gelegentlich etwas eitel, aber trotzdem klug. Er urteilt als Besitzer reich gefüllter Speicher, voll von unverstelltem Leben, so wie er es in Tagebüchern und Briefen aufgefunden hat. Geiger nimmt in das Erzählen auch seine Liebesgeschichten auf, eine von den Frauen, an die er erinnert, wird er heiraten. Er gibt seinem – ebenfalls von den Fundstücken beförderten – Leben im Alltäglichen viel Platz. Seine Müllabenteuer sind ihm eine Empathiequelle, die ihn aus der Blase der Literatur ins Leben entkommen lässt. Sein Anspruch greift hoch, wenn er schreibt, das Sammeln von gelebtem Leben sei eine Menschenpflicht. Die Kritik am Verkümmern dieser Kulturtechnik in Sprache zu setzen, die nicht stockt, sondern ohne Anstrengung fließt, erscheint bei ihm wie ein Spiel des fantasiebegabten jungen Mannes, der er war, als er mit seinen Ausflügen in den Papiermüll begann. Sie macht Das glückliche Geheimnis auch zu einer glücklichen Lektüre.Placeholder infobox-1