Aufregung um ein Buch. Nein, zutreffender ist die Feststellung: Aufregung um eine bestimmte Enthüllung, die auf den Seiten 126, 127 des Buches gegeben wird: Ich war Mitglied der Waffen-SS. Was aber ist über die Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel, in der Günter Grass die Jahre von 1939 bis 1960 zu erzählen versucht, literarisch zu sagen? Sie umfasst immerhin 480 Seiten und nicht allein zwei.
Zunächst ist festzustellen, dass sich die Offenbarung der Schuld wie der Scham in diesem Buch nicht auf diese zwei Seiten reduziert. Wer bei seiner Lektüre nicht ahnt, was nach 126 Seiten kommt - eine naive Lektüre, die nach dem Rummel um das Buch nicht mehr möglich ist -, der hätte von Anfang an gespürt, dass der Autor mit dem Buch etwas vorhat. Warum sonst schreibt er in vielfachen Variationen davon, dass "dies und auch das nachgetragen werden muß". Gleich anschließend heißt es: "Weil vorlaut auffallend etwas fehlen könnte" und: "weil ich das letzte Wort haben will". Immer wieder kehrt er zurück zu seinem Erschrecken, damals Fragen nicht gestellt zu haben. Diese Überlegung führt Grass schon ziemlich früh in seinem Buch zur Frage von heute: "Kann es sein, dass mich Angst vor einer alles auf den Kopf stellenden Antwort stumm gemacht hat?" Diese Formulierung und alles, was sie unausgesprochen mitträgt, geht über die zu erwartende Mitteilung: Ich war ein Mitläufer! weit hinaus. Im Gegenteil: Sie zeigt höchste Dringlichkeit an! Dass Grass ein begeisterter Hitlerjunge, Flakhelfer und Wehrmachtssoldat war, wusste man seit langem von ihm selbst. Dies erneut einzugestehen, konnte nicht "die alles auf den Kopf stellende Antwort" sein.
Grass schützt sich nicht mit dem Umstand, nur ein Kind gewesen zu sein. Er sagt von sich, dass er ein "grimassierender Junge" war. Der Anfang der Autobiographie bis zu jener Enthüllung muss bei der Bewertung zu Buche schlagen, wenn über die Seiten 126, 127 gesprochen wird. Mit feierlichem Ernst wurde zuvor vorbereitet, was dann auszusprechen ihm alles andere als leicht gefallen sein muss. Beim Lesen von Beim Häuten der Zwiebel zerstreut sich der Eindruck, der Alte habe seinen letzten großen Coup landen wollen und Marketing für sein Buch betrieben. Nein, wer das wollte, hätte sich seine Selbstbefragung nicht so schwer gemacht. Und weil er sie sich alles andere als leicht machen wollte, beginnt er den Rückblick auf die frühen Jahre eben nicht auf dem Schoß der Mutter, bei den frühesten Erinnerungen an die Kindheit in Danzig, sondern in dem Moment, wo etwas endete: die Kindheit. Er legt den Zeitpunkt für den Beginn seines autobiographischen Erzählens auf den Tag fest, von dem an er sein frühes Ich für schuldfähig hält, auf den 1. September 1939.
Deutlich ist dem Text eingeschrieben, dass er im Rückblick entstanden ist. Anders ist eine Autobiographie nicht zu verfassen, aber es ist nicht Pflicht des Autobiographen, ständig den Blick des Schriftstellers beim Schreiben der Erinnerung beizumengen. Die Tatsache, dass er sich selbst vom Ende seiner Kindheit an und mindestens bis zum Ende des Kriegs nicht geheuer ist, führt recht überzeugend zu dieser Erzählkonstruktion. Tastend bewegt sich der Nobelpreisträger durch seinen Lebenstext. Nimmt die Prüfung an. Die Versuchung wird gleich zu Beginn des Textes eingeräumt, von diesem Frühstadium seines Ichs in der ferneren dritten Person zu sprechen.
Grass wechselt die Erzählperspektive ständig. Mal ist er unmittelbar beim Ich, dann benutzt er distanzierend die dritte Person. Ein Erzählverfahren, das spätestens die beiden Kapitel, die das Ende des Kriegs für den 17-, 18jährigen aufrollen, zu außerordentlicher Wirkung bringen. Es ist der Stoff selbst, der ihm die Form anbietet. Der ist löchrig, weil die Erinnerung an mehr als sechzig Jahre Zurückliegendes löchrig ist. Und er will sie nicht: die Erinnerungen, die über die Jahre im Gespräch mit Kindern und Enkeln glatt geschliffen worden sind, dass sie abschnurren, als wären sie Anekdoten. Diese "Mücken im Bernstein", die als wahre Geschichten gelten wollen und sich jederzeit erzählbar eingekapselt haben, betrachtet er misstrauisch. Bernstein, der vorzeitliche Einschlüsse aufbewahren kann, dient dem Buch neben der titelgebenden Zwiebel, die gehäutet wird, um einen Kern freizulegen, als zweite Grundmetapher.
Dass der Text bei allem Erschrecken vor der Schuldfähigkeit und dem Teil von Schuld, der bis heute Scham nachwachsen lässt, weder am dünnen Gedankenfaden läuft noch in der Polemik mit sich selbst stecken bleibt, sondern sattes Erzählen wird, ist nicht zu überlesen. Gerade in den beiden Hauptkapiteln, die den Weg des Soldaten mit den SS-Runen am Kragenspiegel aus dem Krieg heraus erinnern, ist sein Erzählen kraftvoll, souverän und literarisch subtil wie einst in den frühen Büchern. Als der Soldat im Chaos der letzten Schlacht in Niederschlesien hinter die russische Linie geraten ist und der Feldwebel den Durchbruch mit Fahrrädern befiehlt, muss er eingestehen, dass er nicht Fahrrad fahren kann. Der befehlende Feldwebel kann es kaum glauben. Er ordnet an, dass der Unfähige zurückbleiben soll, um wenigstens Feuerschutz zu geben. Wenig später sind alle, die da mit dem Fahrrad flüchten wollten, niedergemäht von russischen Maschinengewehren: "Dann rührte sich nichts mehr. Allenfalls sah ich ein aus dem Haufen ragendes Vorderrad: wie es sich drehte und drehte."
Weil ein solches Bild, filmreif, eine falsche "Mücke im Bernstein" sein könnte, die verführt, als wahre Geschichte genommen zu werden, bricht der Erzähler hier ab und schließt an: "Es kann aber auch sein, dass diese Beschreibung des Gemetzels nur ein nachgeliefertes Bild ist, das inszeniert wird, weil ich schon vor dem schlussmachenden Geballer meinen Posten im Kellerfenster geräumt und nichts sah, nichts sehen wollte." - Erinnerung, wo sie in Fiktion übergegangen sein könnte, wird abgebrochen. So wirkt das Erzählen als ein Tasten durch das Leben und diese Autobiographie, um die alten, halbwahren Bilder nicht durch neue, nicht minder halbwahre abzulösen. Wie der zu Tode erschreckte Soldat mit angstbepisster Hose in einem Kiefernwald Hänschenklein singt, um von einem Schatten zu erfahren, ob er russisch ist oder deutsch, Tod oder Leben bedeutet, gehört auch zu den großen literarischen Momenten.
In ihrem ersten Teil, der nahezu die Hälfte der fünfhundert Seiten einnimmt, wird die Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel zu einem Erzählbuch, das jedem Leser - ob Jahrgangsgefährte, Gymnasiast oder in den Generationen dazwischen - ein Bild von dem Wahnsinn des letzten Weltkrieg vermittelt, den die Deutschen ihren Führer haben losbrechen lassen und bei dem die meisten ihm geholfen haben. Mit nachwirkenden Folgen bis heute, was die Debatte um Grass deutlich gemacht hat. Übrigens auch da, wo Kritiker weniger die Mitgliedschaft in der Waffen-SS angriffen als den unübersehbar eingetretenen Schaden für die moralische Instanz Günter Grass aufzeigten. Es scheint so, als wäre Grass unser Alpha, auf jeden Fall aber das Omega der moralischen Nachkriegsinstanzen. Er sollte es um Himmels willen nicht bedauern.
Nun hat Beim Häuten der Zwiebel aber noch einen zweiten Teil. Der kann mit dem ersten nicht mithalten. Man spürt als Leser, dass Grass dies selbst geahnt haben muss, am Beispiel seines erzählerischen Umgangs mit dem katholischen Joseph, dem Zufallskameraden aus dem Kriegsgefangenenlager. Zweimal eilt das Erzählen im ersten Teil ungeduldig voraus, um auf Joseph zu sprechen zu kommen. Das riecht regelrecht nach angewandter Dramaturgie, um sich als früher Freund des heutigen Papstes ins Gespräch zu bringen. Auch wenn es eindeutig nie ausgesprochen wird, ein Spiel mit der Identität des deutschen Papstes Benedikt mit jenem Würfelbruder aus dem Lager ist es dennoch nicht. Auch nachgekaut wird diese nicht ganz uneitle Bekanntschaft noch mehrere Male, um das Außerordentliche auch richtig fürs Erzählen zu verwerten.
Grass offenbart im zweiten Teil von Beim Häuten der Zwiebel hier und da Wurzeln einiger seiner literarischer Figuren - er geht auf die Arbeit an der Blechtrommel in Paris zu -, behandelt vorher ausgiebig seine künstlerischen Findungsversuche als Bildhauer und Zeichner. Dabei streift er den großen Nachkriegsstreit zwischen Karl Hofer (damals Rektor der Westberliner Kunsthochschule) und seinem Kritiker Will Grohmann. Ein erbitterter Kampf zwischen gegenständlicher und abstrakter Kunst, bis hin zur These (die nicht auf Grass zurückgeht, die er nur kolportiert): die gegenstandlose Malerei sei von der CIA gefördert worden, damit der Westen nach dem Krieg die Moderne besetzen könne. Grass findet zu den Nachkriegsphilosophien: Sartres Existentialismus und Camus Sisyphos nur wenige Absätze. Aber hier wäre ja zu erfahren gewesen, wie er in seinem Kopf aufräumt, was er Neues in die Leerstellen setzt. Etwas mehr dann über seine erste Frau und über die Einladung des noch nicht 30jährigen in die Gruppe 47. - Gegen Ende der fünfhundert Seiten bewegend einzig die sehr liebevolle Zeichnung seiner früh verstorbenen Mutter. Außerdem erfahren wir, wie Grass ein Raucher wurde und welch toller Liebhaber er war.
Nichts vom schweren Weg zur Wahrheit und der damit einhergehenden literarischen Kraft des ersten Teils ist mit dem Resümee des zweiten zurückzunehmen. Doch wirft das, was nach der Mitte des Buches kommt, am Ende die Frage auf: Wäre Grass´ Autobiographie ohne die Enthüllung, bei der Waffen-SS gewesen zu sein, weiter aufgefallen? Schwer vorstellbar.
Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel. Steidl, Göttingen 2006, 480 S., 24 EURE
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