„Bauen ist selten gewagt“

Alltagsrituale (5) Wie erleben Zuwanderer den hiesigen Alltag: Donatella Fioretti und Pepe Marquez erklären, wieso die vielen deutschen Normen kreatives Bauen erschweren

Wahrscheinlich kann man das Wesen eines Landes an Wenigem so deutlich ablesen wie an der Architektur, die es hervorbringt. Oder sollten wir lieber sagen: die es zulässt?

Als wir vor über 15 Jahren nach Berlin gekommen sind, hatte uns eine Welle der Enttäuschung aus Italien nach Deutschland gespült. Wir spürten, dass unser Leben nicht lang genug sein würde, um dort jemals an einem Projekt zu planen, das auch wirklich zu Ende gebaut werden würde. Einige Projekte, an denen wir damals mitgearbeitet haben, sind noch immer nicht fertig gestellt. In Italien ist kaum eine Phase des Baus eines Gebäudes transparent. Der Architekt ist eine komplett unbeschützte persona, vollkommen der Willkür aller ausgeliefert, die irgendwas in dem Prozess zu sagen haben: Bauherren, Investoren oder die Stadtverwaltung.

Von diesem Chaos wollten wir dringend weg, kamen nach Berlin und begegneten dort sofort einem überwältigenden Regelkorpus, dessen charakteristischer Ausdruck die schier unendliche Zahl von DIN-Normen ist. Die hohe Regulation führt dazu, dass in Deutschland alles, was im Architekturbetrieb geschieht, viel transparenter ist als in Italien. Dadurch erhöhen sich bei Wettbewerben die Chancen für Außenseiter. Solange man sich an die Regeln hält, hat man auch als Ausländer theoretisch die Möglichkeit, ein Projekt umzusetzen.

Ästhetik gilt als unsachlich

Nur so konnten wir es uns erklären, dass wir schon kurz nach der Eröffnung unseres Büros den Auftrag erhielten, eine Bibliothek in Bayern zu bauen. Dabei waren wir gar nicht besonders erfahren. Aber unsere Idee war offenbar überzeugend – und darauf kam es an. Bei der Realisierung hat uns die Genauigkeit und die Akribie des gesamten Bauprozesses auf der einen Seite imponiert und auf der anderen zur Verzweiflung gebracht.

Wir mussten feststellen, dass hier ein ganz anderes Verständnis der Regeln herrscht. Wahrscheinlich sind die deutschen Regeln das Ergebnis einer demokratischen Debatte, die historisch bedeutsam ist. Diese schwer erkämpften Begrenzungen verselbstständigen sich und werden so dominant, dass sie nicht mehr nur die Qualität der Konstruktion sichern, sondern zum puren Selbstzweck mutieren: das Gegenteil dessen, was eine Regel eigentlich soll.

Aus dieser Haltung entsteht eine „übervorsichtige“ Mentalität, die dazu führt, dass hier zum Beispiel die statische Struktur eines Gebäudes immer etwas dicker dimensioniert wird als in Österreich oder der Schweiz. Als würde in diesem Land ein anderes Schwerkraftgesetz herrschen. Die Normen werden zu einer „Glaubensfrage“. Sie verursachen Kosten und dienen teilweise vor allem dazu, den jeweiligen Entscheidungsträger von der eigenen Verantwortung zu entlasten. In Deutschland werden die technischen Aspekte unermüdlich und extrem kompetent diskutiert, dagegen sind ästhetische Kriterien in einer architektonischen Fachdiskussion eher unbeliebt. Sie gelten als unsachlich und willkürlich.

Die Deutschen haben zwar weniger Probleme mit der Durchnormierung des Bauens, aber sie nehmen dafür oft das Entstehen von mittelmäßiger Konsensarchitektur in Kauf. Wir haben lernen müssen, dass es sinnvoll ist, den ersten Entwurf für ein Gebäude nicht zu gewagt zu gestalten, sondern die Konturen erst nach und nach weiter zu verschärfen. Mit einem Paukenschlag von Entwurf alle auf seine Seite ziehen? Nein.

Kultur des Machens

Auf diese Weise würde sich die Situation hoffnungslos verkrampfen. Der Konsens lässt sich aber erreichen, wenn wir unsere gestalterischen Konzepte vortragen und ein Vertrauen zu dem Gesprächspartner aufbauen. Im Laufe der gemeinsamen Projektentwicklung ist die allgemeine Zustimmung gestiegen, weil wir offen, direkt und weniger buchhalterisch unsere architektonischen Ziele erklärt haben.

Wie begeisterungsfähig die Beteiligen im Laufe des Bauprozesses werden! Wie sie sich nach und nach mit dem Gebäude identifizieren können! Diese „Kultur des Machens“ ist hier sehr ausgeprägt. Das enge Korsett der Bauvorschriften verträgt sich angeblich schlecht mit der Rhetorik der Kreativität, die tut, als ginge es immer nur um die Erlösung vom Joch der strengen Regel.

Mittlerweile mussten wir einsehen, dass die Konfrontation mit der hohen Regulierung sogar uns gezwungen hat, manche Automatismen zu verlassen. Wir sind offener für neue Konzepte und Herangehensweisen geworden.

Als wir vor ein paar Jahren wiedermal in Italien gearbeitet haben, waren wir erstaunt, wie fremd wir uns dort fühlten. Wie tiefgehend die Zeit in Berlin unsere Arbeit beeinflusst hat. Seither hat sich unser Blick stark verändert. Wir sind im Grunde deutsche Architekten geworden. Und das ist gut so.

Protokoll: Hanna Engelmeier


Architektur ohne Phantasie

Kann denn Bauen Sünde sein? Oh nein, dafür haben wir ja die Evangelien der Bauvorschriften. Was immer auch missfällt, es missfällt vorschriftsmäßig. Spielen mit Formen dürfen wir nicht. Verschwenden – beinahe immer ein Merkmal der großartigen Jahrhundert-Bauten – (die schließlich sogar billig sind) – dürfen nur wenige. Poesie des Bauens?

In Berlin stehen wegen der Bombenschäden oft Gründerzeithäuser in einer Zeile mit Nachkriegsbauten. Niemals zuvor war das Bauen internationaler. Schweizer in Peking, Deutsche in Dubai, Amerikaner in Indonesien, Japaner in Kairo, Italiener in Berlin. Aber Letzteres ist die Ausnahme. Berlin baut deutsch. Nach 1989 hat es so viel gebaut wie keine andere europäische Stadt. Aber der Aufbruch ist nicht als Chance für kühne Baulösungen genutzt worden. Lieber die Restauration in moderner Fassung. Ach, die Berliner Traufhöhe! Ach, die Berliner Staatsbauten! Ach, diese pseudo-schicken Rendite-Objekte! Phantasie an die Macht!

Hartmut Böhme lehrt Kulturtheorie am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität Berlin. Er begleitet die Serie mit kurzen, theoretischen Einordnungen.



In der Reihe Wie uns die Anderen sehen, konzipiert von Hanna Engelmeier und Marco Formisano, haben wir eine besondere Gruppe von Zuwanderern in Berlin um ihren alltags-kulturellen Blick auf die Stadt gebeten: Wissenschaftler, Architekten, Mediziner, Schauspieler und Künstler erzählen von ihrer bisweilen schon vertrauten, aber oft auch noch fremden Heimat. Durch ihre Arbeit haben sie einen geregelten Zugang zu Stadt und Bewohnern, aufgrund ihrer Herkunft ein besonderes Gespür für die Unterschiede in der Bedeutung alltäglicher Praktiken. Im nächsten Teil der Serie erklärt der Italiener Marco Formisano, warum er immer noch irritiert ist über eine Verabredungskultur, in der ganz spontan zwei Wochen Vorlauf bedeutet.

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