Wenn Berlin am Meer liegen würde, wäre es perfekt. Als ich vor ein paar Jahren das erste Mal aus Portugal hierher kam – damals noch als Austauschstudentin –, hatte ich das Gefühl, (abgesehen von diesem kleinen Makel) in meiner Traumstadt zu leben: Menschen aus aller Welt strömen hierher, weil die Mieten günstig sind, und sie schaffen eine eigene Kultur, es gibt ständig neue Einflüsse von den vielen Migranten.
Ich wohnte damals in der Naunynstraße in Kreuzberg und überquerte oft die Spree, Höhe Engeldamm. Eines Tages hat mich dabei die Sehnsucht nach dem Meer überwältigt. Meine Heimat ist Porto: eine Stadt, die durch die Lage am Meer vollkommen bestimmt ist. Nun lebe ich seit einigen Jahren in Berlin, aber die Sehnsucht nach einem Ort, an dem der Blick ins Unendliche gehen kann, ist geblieben.
In Berlin gibt es viele Flächen, die den Blick freigeben: Parks, Baubrachen oder auch die großen Alleen. Aber immer wieder stellt sich der freien Sicht eine Grenze in den Weg, irgendwann kommt doch wieder ein Gebäude. Trotz der Größe der Stadt fühle ich mich daher manchmal beengt.
Wo ist der Fernsehturm?
In den alten Wohnvierteln halten zudem die allermeisten Gebäude die berühmte Berliner Traufhöhe ein, sie sind damit alle ungefähr gleich hoch. Dadurch fehlen meinem Blick manchmal Punkte, an denen er sich festhalten kann – zumindest immer dann, wenn ich den Fernsehturm gerade nicht erspähe, der die große Ausnahme ist. In Städten, die eine richtige Skyline haben, New York oder sogar Frankfurt, habe ich ein Gefühl dafür, was nah und was fern ist, wie ich meine innere Navigation ausrichten kann.
Berlin dagegen ist ein Häusermeer mit relativ gleich hohen Wellen, die Häuser plätschern so vor sich hin. Das empfinde ich sogar in Vierteln wie Marzahn so, in denen riesige Plattenbauten stehen. Denn die ähneln sich ja auch wieder sehr in Höhe und Aussehen.
Durch meine Heimatstadt Porto fließt der Douro. Wenn man ihm folgt, gelangt man direkt ans Meer, das gleichzeitig Zentrum und Grenze der Stadt bildet. Es wirkt wie eine Art Magnet für die Bewohner, die mit dem Fluss gemeinsam dort hinströmen. In Berlin gibt es keinen Mittelpunkt, jedenfalls habe ich noch keinen gefunden. Das liegt einerseits an der Teilung der Stadt, die ja aus städtebaulicher Sicht noch gar nicht so lange überwunden ist, und die zwei unterschiedliche Zentren hervorgebracht hat. Andererseits lieben es die Bewohner auch, sich ihre Zentren dort zu bauen, wo sie gerade leben. Mir fällt es daher schwer zu bestimmen, was die Stadt überhaupt ausmacht.
Sie kann keine Identität haben, die der von Porto ähnelt, denn die wird durch die geographische Lage bestimmt. Berlin wird von der Spree durchschnitten. Und so, wie der Fluss durch die Metropole hindurch fließt, ohne dass man sofort sieht, woher er kommt und wohin er geht, ist es in meinen Augen auch um die Identität der Stadt bestellt: Sie besteht in einem Prozess. Wenn etwas Berlin ausmacht, dann der dauerhafte Wandel.
Ich finde es spannend zu sehen, wie es mit der Stadt weitergeht, wenn diese Bewegung an ihre Grenzen gerät. Diese sind klar abgesteckt, das kann man in einigen Gegenden in Berlin-Mitte bereits sehen, in denen es keinen Spielraum mehr für Neuerungen und Veränderungen gibt, und in denen alles, was man sanieren und renovieren konnte, zu Ende saniert und renoviert worden ist. Sogar in der relativ kurzen Zeit, die ich das erste Mal in Berlin gelebt habe, konnte ich das beobachten: am deutlichsten an dem wohl berühmtesten Berliner Renovierungsfall, dem Palast der Republik.
Eine große, auszufüllende Leere
Mir kam es so vor, als hätte man an ihm ein Exempel statuieren wollen, dass der Kapitalismus dieses eine Mal eben doch gewinnen kann. Dadurch, dass das gesamte Gebäude mit seiner Geschichte einfach abgerissen worden ist, ist eine große, noch auszufüllende Leere entstanden. Das gefällt mir als Architektin natürlich erst einmal, aber gleichzeitig scheint es mir, als habe man auf diese Weise ein großes Energiefeld aus der Mitte der Stadt weggerissen.
Für die Momente, in denen mich angesichts der vielen Veränderungswellen und Häusermeere das Heimweh nach dem weiten grenzenlosen Blick packt, habe ich mittlerweile ein Mittel gefunden, das mich tröstet. Ich gehe dann meist in einen Park, lege mich auf den Rücken ins Gras und schaue nach oben. Der Himmel über Berlin hat mich noch nie enttäuscht.
Protokoll: Hanna Engelmeier
Das Meer und die Sehnsucht
Porto ist die ozeanische Dimension, Berlin die terrestrische. Ingeborg Bachmann dichtet „Böhmen liegt am Meer“ und ruft einen fiktiven Ort auf, „a desert country near the sea“ aus Shakepeares Wintermärchen. Dass Berlin am Meer liegen möge, macht einmal mehr deutlich, dass Städte aus Poesie und Realität, aus fluiden Sehnsüchten und deren steinernen Verbauungen bestehen. Will man hier den unendlichen Blick, muss er in den Himmel gerichtet werden. Noch das erinnert an Grenzen: Es herrschte Der geteilte Himmel, wie Christa Wolf, ein „blecherner Himmel“, wie Alexander von Humboldt schrieb. Im Film Der Himmel über Berlin (eine besondere West-Berliner Tristesse) rezitiert Bruno Ganz das Lied vom Kindsein von Peter Handke: „Als das Kind Kind war,/ ging es mit hängenden Armen,/ wollte der Bach sei ein Fluß,/ der Fluß sei ein Strom,/ und diese Pfütze das Meer.“ Luft und Wasser, Himmel und Meer: das Fluidale lässt die Wünsche und Phantasien treiben, die in jeder Stadt auf Grenzen, Differenzen, Mächte treffen.
Hartmut Böhme lehrt Kulturtheorie am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität Berlin. Er begleitet die Serie mit kurzen, theoretischen Einordnungen
In der Reihe Wie uns die Anderen sehen, konzipiert von Hanna Engelmeier und Marco Formisano, haben wir eine besondere Gruppe von Zuwanderern in Berlin um ihren alltags-kulturellen Blick auf die Stadt gebeten: Wissenschaftler, Architekten, Mediziner, Schauspieler und Künstler erzählen von ihrer bisweilen schon vertrauten, aber oft auch noch fremden Heimat. Durch ihre Arbeit haben sie einen geregelten Zugang zu Stadt und Bewohnern, aufgrund ihrer Herkunft ein besonderes Gespür für die Unterschiede in der Bedeutung alltäglicher Praktiken. In der nächsten Woche endet die Serie. In der letzten Folge erzählt der Amerikaner Colin G. King von seinen Versuchen des Going native, also von dem schwierigen Unterfangen, in einer fremden Stadt heimisch zu werden
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