Die Metro der Hauptstadt hat die Wende- und Nachwendezeit unbeschadet überstanden. Natürlich wurden hier und da Namen von Revolutionären getilgt. So heißen die "Leninberge" wieder "Sperlingsberge", und für die entsprechende Metrostation gilt das selbstredend auch - doch weder die Architektur noch die baulichen Zitate in den Stationen der wohl prunkvollsten je von Menschenhand erbauten Untergrundbahn haben irgendeinen Tribut zollen müssen. Keiner, der über eine der unzähligen Leninbüsten ein "Njet" oder sonst einen Spruch gesprüht hätte; kein Vandale, der einen roten Stern oder ein Hammer- und Sichelsymbol aus der oft greifbar nahen Stuckatur gerissen hätte.
Wie eh und je zu Trauben verkeilt, wälzen sich die Menschenmassen in R
assen in Richtung der Aus- und Übergänge, zusammen gedrängt und mit den Füßen trippelnd, bis sie die hölzernen Rolltreppen ruckartig nach oben ziehen. "Rechts stehen, links gehen", hat einst der berühmte Barde Bulat Okudschawa sein Lied der Metropoliten genannt. Es hat sich nichts verändert.Frische HolzkohleEin völlig anderes Bild hingegen bietet sich über der Erde, wo die Welt der Wendeprofiteure einen öffentlichen Raum beansprucht, der nur noch für Zahlungskräftige zugänglich ist. Waren es zu Sowjetzeiten Berufsassoziationen und Betriebsklubs, die Palais aus der Zarenzeit in Besitz genommen hatten und als halb-öffentliche Sphäre erhielten, hat die Privatisierung der vergangenen 15 Jahre Einrichtungen dieser Art vollends beseitigt. Jeder Meter öffentlicher Raum kostet teures Geld.Unzählige Cafés und Restaurants säumen die großen Boulevards, jedes eine Job-Maschine für Wächter und Aufpasser, auch wenn die meisten Lokalitäten eher schütter besucht sind. Nur ab und an fallen ganze Heerscharen von meist jugendlichen Allradfahrern Heuschrecken gleich in diese Etablissements ein, um sich darin die Nacht um die Ohren zu schlagen. Die synkretistische Warenwelt in einer dieser Dielen, dem "B 2" etwa, ist für Westeuropäer gewöhnungsbedürftig: Popdisko im Untergeschoss, Jazz im ersten, Chanson im dritten Stock. Dazu isst der Neurusse Sushi, raucht Wasserpfeife, die von arabischen Kellnern im Zehnminutentakt mit frischer Holzkohle versorgt wird und trinkt Wodka. Je größer die Flasche, desto teurer. Mein fragender Blick in Richtung Kellner erheischt die Auskunft: Wer einen Liter Wodka auf den Tisch stellt, hat offenbar mehr Geld und ein größeres Imponiergehabe zu befriedigen als jemand, der sich den Wodka halbliterweise servieren lässt. Dann soll er dafür auch mehr als das Doppelte zahlen und mit großen Rubelscheinen auftrumpfen können.Innerhalb des innerstädtischen Gartenrings haben Arme nichts verloren und finden folgerichtig keinen Platz, um sich auch nur ein Bier zu leisten. Dass Verarmung ein Massenphänomen ist, kann man nicht nur in den Vorstädten Moskaus beobachten, sondern auch in der Statistik nachlesen."Die Schocktherapie in den ersten Monaten der Reformen ließ die Massenarmut in Russland geradezu explodieren", meint der Ökonom Viktor Krasilschtschikow von der Akademie der Wissenschaften. Wies die Sozialstatistik für 1999 41 Millionen Russen als "arm" aus, galten noch 2003, zwölf Jahre nach der Wende, laut gleicher Quelle 30 Millionen (ein Fünftel der Bevölkerung) als "verarmt". Das führe dazu - so Krasilschtschikow - dass zwei Fünftel aller Russen vom sozialen Leben mehr oder weniger ausgeschlossen seien, da sie über 60 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden müssten. Da bleibe nichts für Mobilität und Teilhabe am öffentlichen Leben."Seit 15 Jahren wird in der Provinz nichts Nennenswertes mehr produziert, sieht man vom Rüstungsbusiness ab. Unsere Bevölkerung ist krank, psychotisiert, viele Kinder gehen in Sonderschulen, weil ihre Eltern alkoholkrank und mehr Last als Stütze sind". Diese Diagnose stellt einer, der in den frühen neunziger Jahren selbst zum inneren Zirkel der Schocktherapeuten um Jelzins Premierminister Jegor Gaidar gehörte. Der Ökonom Ovsej Shkaratan lehrt heute wohl bestallt an der Higher School of Economics, einer Filiale der London School of Economics in Moskau. Eine gewisse Selbstkritik schwingt in seiner Analyse mit, wenn er von der gesunkenen Lebenserwartung der Russen spricht und post tragoediam an die USA erinnert, die Anfang 1991 Gaidar zur totalen Freigabe der Preise gedrängt hätten. "Damals versprach mir der amerikanische Botschafter persönlich über 23 Milliarden Dollar, um den Schock auffangen zu können. Wir erhielten keinen einzigen Cent, stattdessen wurde Polen beim Schuldenabbau geholfen."Soziale Initiative Co.Eine durchschnittliche Rente im Russland des plündernden Kapitalismus beträgt im August 2006 umgerechnet 120 Euro; und das bei Preisen für Lebensmittel, die zumindest in Moskau westeuropäisches Format haben. Ein Kilo Fleisch für durchschnittlich sechs Euro wird da für einen Rentner zu einem Luxus, der allein Festtagen vorbehalten bleibt.Im Herbst 2005 gingen in vielen Städten vor allem Pensionäre und Eltern kinderreicher Familien auf die Straßen, um sich gegen die bis dahin einschneidendste "Sozialreform" zu wehren. Es ging um das "Gesetz 122", mit dem Sozialleistungen für Alte, Kinderreiche, Studenten und Veteranen des "Großen Vaterländischen Krieges" "monetarisiert" werden sollten. Im Klartext: Hatte ein Pensionär im alten System Anspruch auf unentgeltliche Gesundheitsfürsorge, auf freie Fahrt im öffentlichen Nahverkehr oder Mietzuschüsse, sollte dies mit dem "Gesetz 122" abgeschafft und durch einen finanziellen Ausgleich kompensiert werden - jeder Dritte hatte zuvor die angeführten Vergünstigungen genutzt."Der Protest kam fast einer Revolution gleich", erinnert sich der Soziologe Wladimir Formenko an die Großdemonstrationen, die das Vorhaben der Regierung scheitern ließen und einen Kompromiss erzwangen. Danach kann sich nun jeder entscheiden, ob er die entsprechenden Leistungen per Berechtigungsschein oder statt dessen einen finanziellen Zuschuss erhalten will. Die Leute würden sich überwiegend für die "Naturalform" entscheiden, meint Formenko, also müsse der Staat Geld zuschießen. Der durch die Gewinne aus den Gas- und Ölexporten mit über 100 Milliarden Dollar gut gefüllte Stabilisierungsfonds des Kreml diene somit auch sozialen Zwecken."Moskau zieht das Ölgeld magisch an. Hier wird es verteilt - und das meiste auch ausgegeben", glaubt Wladimir Formenko. Und der Ökonom Shkaratan hakt nach: "In Russland gibt es derzeit enorme soziale Differenzen, dennoch haben wir es mit keiner Klassengesellschaft im üblichen Sinne zu tun, sondern mit einer asiatischen Struktur ohne Klassen." Eine Anspielung auf die fehlende Eigentumssicherheit, denn jeder Gouverneur kann jede Immobilie zu jedem ihm gefälligen Moment für die Allgemeinheit - oder was er dafür hält - reklamieren. Daher treffen Eigentümer ihre Arrangements mit den regionalen Autoritäten und denken kaum daran, ihre Gewinne in langfristigen Investitionen anzulegen - eine Oligarchen-Ökonomie in Staatsnähe ist die Folge.Wie tief verwurzelt die Unsicherheit in Eigentumsfragen ist, haben unlängst wieder Kleinstinvestoren erfahren. Ein Unternehmen mit dem einprägsamen Namen "Soziale Initiative Co." hatte die Einlagen Zehntausender Haus- und Wohnungsbauer veruntreut. Am 19. Mai demonstrierten daraufhin Hunderte von Betroffenen vor einem Regierungsgebäude in Moskau und riefen: "Gebt uns unsere Häuser zurück!", "Alle Macht dem Volk" und "Putin, hilf uns!" Doch der Präsident hatte nur seine Omon-Spezialeinheit anzubieten, die eine kurze Kraftprobe mit den um ihre Ersparnisse Gebrachten zu ihren Gunsten entschied.Zur Rechtsunsicherheit gesellt sich in Moskau ein Verlust an persönlicher Sicherheit, weil sich die Kriminalität kaum eindämmen lässt, in der sich auch die Illegalisierung von zwei bis drei Millionen Bewohnern des urbanen Molochs spiegelt. Moskauer zu werden, verlangte schon zu Sowjetzeiten viel Geduld und galt als komplizierter Vorgang - heute trifft das mehr denn je zu. Irina zum Beispiel hat nach monatelangem Kampf mit den Behörden eine Aufenthaltsgenehmigung bis 2008 erstritten. Sie ist Russin aus Baku, ihre Tochter wollte eine russische Universität besuchen. Obwohl beide Aserbaidschanisch sprechen, war ihnen der Aufenthalt in der einst multinationalen Metropole am Kaspischen Meer, die sich rapide nationalisiert, immer unerträglicher geworden. Auch die Heirat mit einem Moskowiter konnte Irina bislang keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus für Moskau verschaffen.Über 25 Millionen ethnische Russen leben seit Auflösung der UdSSR in Staaten, die von Lettland bis Turkmenistan mit eben dieser Minderheit nicht gerade nobel verfahren. Dass es für sie keine Integrationsangebote gibt, ist umso unverständlicher, als die Gesamtbevölkerung der Russischen Föderation seit 1991 dramatisch schrumpft. Bis 2003 verlor das Land 5,2 Millionen Menschen oder 3,5 Prozent seiner Staatsbürger. Die Mehrheit davon ist laut UN-Diktion einer "transition mortality" genannten Todesart zum Opfer gefallen. Ein Übriges bewirkte die Emigration, denn die Flexibelsten sind in die USA, nach Australien oder Westeuropa ausgewandert. Ein Viertel der Spezialisten im kalifornischen Silicon Valley - wird geschätzt - arbeitet mit russischen Hirnen. In dieser Doppelfalle zwischen schwindender Bevölkerung und attraktiven ausländischen Arbeitsmärkten wäre Mobilität geboten, auch wenn sie zuweilen Sprengkraft birgt, falls die immigrierenden Russen aus den Konfliktregionen des Kaukasus und Zentralasiens kommen.Christus erlöse unsBis zum September 1994 befand sich auf diesem Gelände das größte Freibad der russischen Kapitale - jetzt strahlt die Erlöser-Kirche wieder in vorrevolutionärem Glanz dank des Blattgolds auf ihren fünf Kuppeln. Erbaut wurde das Gotteshaus im 19. Jahrhundert als Zeichen des Sieges über Napoleon. 44 lange Jahre hatten Zaren und Patriarchen warten müssen, bis der gigantische Sakralbau 1883 von Zar Alexander III. den Rechtgläubigen übergeben wurde. Peter Tschaikowski komponierte für den Festakt eigens seine "Ouvertüre 1812". 45 Jahre später holten die Bolschewiki zur Antithese aus - den Platz der Christ-Erlöser-Kirche sollte ein Sowjetpalast einnehmen, höher, größer, prunkvoller als alle Hochhäuser, die seinerzeit in den USA gen Himmel wuchsen. "Die Tragödie um die Errichtung des Rätepalastes an Stelle der Kirche war Ausdruck des Kampfes zwischen der Idee von der Priorität Gottes und der von der Priorität des Menschen", beschreibt heute die russisch-orthodoxe Kirche in einer Broschüre den Konflikt jener Jahre ungewohnt analytisch.Gesprengt wird die Kirche schließlich am 5. Dezember 1931 - doch nie soll ein Rätepalast sie ersetzen. Der Zweite Weltkrieg und ein statisches Gutachten verhindern die geplanten riesige Leninstatue samt Unterbau - die architektonische Hybris schrumpft nach 1945 zum Gebrauchswert eines Moskauer Freibades.Andere Zeiten, andere Erlöser. Russlands Präsident Boris Jelzin, der russisch-orthodoxe Patriarch Alexej II. und Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow durchschneiden am 3. September 1997 das blaue Band, als der erste Bauabschnitt der wieder errichteten Kirche abgeschlossen ist. Am 19. August 2000 wird sie geweiht, und seither dankt eine Donatoren-Tafel im Kirchenschiff Großsponsoren wie Gasprom, McDonalds, Most-Bank, Verkehrsministerium, Mosgaz und anderen aus der Grauzone von staatlicher Subvention und privatwirtschaftlichem Mäzenatentum. Aber Gott ist gnädig - und die Kirche im Aufschwung?Personell zeigt das orthodoxe Patriarchat freilich Führungsschwächen. Alexej II. ist ein alter Mann, hat der Kirche bereits unter KPdSU-Generalsekretären gedient und huldigt inzwischen als Patriarch dem Präsidenten in einer Weise, die bei vielen Russen Kopfschütteln auslöst. Zu Ostern 2006 sang er vor laufender Kamera ein Loblied auf Putin. Selbst zu Zeiten des Zarismus war es nicht üblich, dass der Patriarch den Monarchen in solch inniger Weise pries. Manche empfinden das nicht nur als Opportunismus, sondern auch als ein Zeichen dafür, dass der Höhepunkt der Gotteseuphorie in Russland vorüber ist. Dem pflichtet die Statistik bei - nur etwa jeder zehnte Russe bezeichnet sich noch als gläubigen Menschen.
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