Ausdrücke wie „Erpresser“ und „Serientäter“ gehören nunmehr zum Standard-Wortschatz von EU-Institutionen, wenn von Regierenden in Ungarn oder Polen die Rede ist. Wie können die es wagen, den knapp 1,1 Billionen Euro schweren Haushalt bis 2027 sowie das Corona-Paket mit seinen Versprechungen auf 750 Milliarden zu blockieren? Hinter den Anwürfen gegen Viktor Orbán und Mateusz Morawiecki steckt viel westeuropäische Überheblichkeit. Schlimmer: Brüssel bedient sich einer Sprache wie im Kalten Krieg, so die Vizepräsidentin der EU-Kommission Věra Jourová, wenn sie Ungarn als „kranke Demokratie“ bezeichnet und dortige WählerInnen „für unfähig“ hält, „sich eine unabhängige Meinung zu bilden“.
Die Blockade der Länder richtet sich gegen ein von Brüssel eingespeistes Junktim mit der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit. Künftig soll die EU-Kommission nicht nur wie bisher durch Fiskalpakt und „Twopack“ nationale Budgets den Maastricht-Kriterien unterwerfen, sondern darüber hinaus den Empfang von EU-Geldern an rechtsstaatliche Vorstellungen binden können. Wie genau diese „Rechtsstaatlichkeit“ aussehen soll, dafür fehlt allerdings eine nachvollziehbare Definition. Die „Rule of Law“ ist in der Wirklichkeit stark interpretierbar – und instrumentalisierbar.
Vor dieser Instrumentalisierbarkeit warnen Budapest und Warschau. „Wir wollen nicht, dass unsere Finanzen von der Sympathie oder mangelnden Sympathie gegenüber bestimmten Ländern oder vom politischen Willen einiger Politiker abhängig sind“, erklärte Polens stellvertretender Außenminister. Dass hinter dieser Argumentation die Angst vor dem Verlust nationaler Souveränität steht, verhehlen weder die ungarische Fidesz noch die polnische PiS.
In der Praxis stellt die Verknüpfung der Auszahlung von Geldern mit rechtsstaatlichen Kriterien für jene, die verdächtigt werden, sie nicht einzuhalten, eine Beweislastumkehr dar. Bisher musste der Europäische Gerichtshof Verfehlungen im Rechtswesen nachweisen, damit Sanktionen verhängt werden durften. Nun ist es umgekehrt: Die Kommission verweigert Gelder, der Verdächtige muss seine Unschuld beweisen.
Unabhängigkeit der Justiz, Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung stellen die Eckpfeiler der – schwammig definierten – Rechtsstaatlichkeit dar. Doch es sind nicht nur Rechtskonservative wie Fidesz und PiS, die damit Probleme haben. Den Streit über die polnischen Höchstrichter hat die liberale Bürgerplattform (PO) losgetreten. Sie setzte 2015 noch rasch vor ihrer Abwahl fünf neue Verfassungsrichter ein, deren Posten eigentlich erst nach den Wahlen frei wurden. Die Pensionsregelung, mit der die PiS-Regierung dann ungewollte Richter in den Ruhestand schicken wollte, war eine Reaktion darauf. Das Vorgehen der PO stellte für Brüssel kein Problem dar, gegen die PiS wurde der EuGH in Stellung gebracht.
Wenn etwa die Süddeutsche erklärt, „hinter dem Erpressungsmanöver“ stehe die „Verachtung“ Ungarns und Polens für die Gewaltenteilung, wird das Messen mit zweierlei Maß lächerlich: Die EU, in der nationale Exekutiven (Minister) die supranationale Legislative (den Rat) bilden, kennt per definitionem keine Gewaltenteilung. Würde die EU einen EU-Beitrittsantrag stellen, wusste schon der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim, müsste ein solcher wegen Demokratiedefizits abgelehnt werden.
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