Alle, die ihr Deutsch-Abi vermasselt oder ein Germanistikstudium abgebrochen haben, hören jetzt mal weg. Friedrich Dürrenmatt ist so etwas wie der Inbegriff für die wenig glorreichen Mühen eifriger Gymnasiallehrer geworden, die Leseresistenz jugendlicher Schüler durch sinnfällige Dramen wie Der Besuch der alten Dame oder Die Physiker zu erschüttern. Dafür kann der weltweit meistaufgeführte, übersetzte und gelesene Schweizer Autor, der am 5. Januar seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, nun wahrlich nichts. Jetzt gibt es die Chance, einen neuen, unvoreingenommenen Blick auf Dürrenmatts künstlerisches Vermächtnis zu werfen – einen, der nicht über Worte führt, sondern über Bilder.
Denn Dürrenmatt
Denn Dürrenmatt – das ist wenig bekannt – war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Maler, und was für einer. Lange Zeit wurde dieser Teil seines Erbes kaum beachtet – kein Wunder, denn er selbst hielt seine zweite künstlerische Seite weitgehend geheim. Ausgestellt hat er seine Bilder kaum, und verkauft hat er kein einziges. Dennoch hat er selbst zwischen den Kunstformen für sein Schaffen keine Rangfolge festgelegt, sondern immer wieder betont, wie sehr für ihn beide ineinandergreifen: „Meine Zeichnungen sind nicht Nebenarbeiten zu meinen literarischen Werken, sondern die gezeichneten und gemalten Schlachtfelder, auf denen sich meine schriftstellerischen Kämpfe, Abenteuer, Experimente und Niederlagen abspielen“, sagte er selbst.Menschenleib und StierkopfUnter diesem Motto steht auch der erste von drei Bänden des Steidl-Verlags, der Dürrenmatts bildnerisches Schaffen zu seinen Texten in Bezug setzt. Allerdings: So verführerisch und womöglich aufschlussreich es sein mag, Dürrenmatts Texte in Dialog mit den Zeichnungen und Gemälden zu bringen oder genealogisch nachzuverfolgen, wie Letztere zu Vorlagen, Kristallisationen oder nachträglichen Illustrationen der Ersteren wurden, so zeigt sich beim Betrachten der Bilder schnell, dass die eigentliche Herausforderung darin besteht, sie aus dem bestimmenden literarischen Zusammenhang zu lösen und ihnen einen eigenen, unabhängigen Stellenwert zuzugestehen.Als Theaterautor hat Friedrich Dürrenmatt zunächst ganz banal eine Affinität zur bildnerischen Umsetzung seiner Motive gespürt, hat Szenen visuell ausgearbeitet und die Physiognomien seiner Figuren mit dem Zeichenstift erkundet. Doch sein Schaffen reicht sehr viel weiter, tief hinab in „die menschliche Verlorenheit in einer undurchschaubaren Welt“, wie Peter Gasser in einem der fünf Textbeiträge, die den Band ergänzen, zu Dürrenmatts komplex ausgestalteten Minotaurus-Figuren schreibt, die immer wieder in seinen Bildern auftauchen.Zu diesem Mischwesen, zusammengesetzt aus Menschenleib und Stierkopf, das in einem ausweglosen Labyrinth seiner Hinrichtung harrt, hybrid, im Übrigen, wie Maler und Autor in einer untrennbaren Gestalt, scheint der Künstler zeitlebens innerliche Nähe empfunden zu haben. Die erste Gouache Der entwürdigte Minotaurus entsteht zwischen 1958 und 1962 und zeigt den behaarten Stiermenschen ungelenk und hilflos. Diese Figur, so erläutert Gasser in seinem Essay, habe „mehr Tierisches als Menschliches an sich, aber auch etwas sonst dem Menschen wesenseigenes Verzweifeltes“. Nach eigenem Bekunden hatte Dürrenmatt schon als Kind „diese Empfindung des Grausamen, diese Empfindung des Eingepferchtseins, des Unübersichtlichen, ich möchte fast sagen: das Empfinden des Minotaurus, der inmitten des Labyrinths sitzt und nicht weiß, was auf ihn zukommt. Ich glaube, ich war ein Kind, das sehr unter Angstgefühlen und darunter litt, dass es sehr viele Dinge nicht durchschaute.“Die Schweiz als geografischer Fixpunkt erschien Dürrenmatt später noch dazu ganz konkret als „vom Rest der Welt abgekapselt“ und „als Gefängnis, in dem sich die Insassen – wie der Stiermensch im Labyrinth – von der Wirklichkeit ausgeschlossen fühlen“. Die 1974 entstandene Federzeichnung Der verängstigte Minotaurus vertieft diese existenzielle Sichtweise noch und zeigt das sich im Labyrinth so hilflos wie vergeblich duckende Monster als Sinnbild menschlicher Einsamkeit und Verlorenheit.Dürrenmatts Rückgriffe auf Mythen und Religion finden in Sisyphos, im von riesigen, schattengleichen Vögeln gepeinigten Prometheus oder auch in Atlas, der unter seiner Last zusammenbricht, exemplarisches menschliches Leiden. Durch grotesk überspitzte Folterszenen, die nicht von ungefähr an Franz Kafkas Strafkolonie erinnern, verhüllte Henkersgestalten oder schonungslose Kreuzigungsfantasien, in denen überdimensionale Ratten sich am Christusleib nähren, erscheint der Mensch als gemartertes Individuum, übergreifend verweisen apokalyptische Szenarien auf eine sinnlosem Zufall und unentrinnbarem Verderben unterworfene Geschichtsauffassung. Dürrenmatt als bildender Künstler – was für eine schmerzvolle Entdeckung!Placeholder infobox-1