Lange hat die türkische Künstlerin Nil Yalter am Radar einer breiten Öffentlichkeit vorbeigearbeitet. Erst jetzt, im Alter von 81 Jahren, wird ihr im Kölner Museum Ludwig die erste werkumspannende Retrospektive zuteil, die ihr beeindruckendes Schaffen aus fünf Jahrzehnten würdigt. Nil Yalter wurde 1938 in Kairo geboren, wuchs in Istanbul auf, reiste als 18-jährige Schauspielerin und Performancekünstlerin durch Iran und Indien und lebt seit 1965 in Paris. Ihre großen Themen Feminismus, Migration und Identität sowie Klassen- und Genderfragen sind hochaktuell.
der Freitag: Frau Yalter, wie ist das, wenn man mit 81 Jahren plötzlich berühmt wird?
Nil Yalter: Natürlich freue ich mich darüber, aber ich wünschte, es wäre früher passiert, und es ist schade, dass das nicht so war. Das Gute ist wiederum, dass nichts verloren ging, denn ich habe in 50 Jahren Arbeit nur sehr wenig verkauft. Ich habe alles selbst aufbewahrt.
Inzwischen kaufen die großen Museen Ihre Werke. Die Tate Modern erwarb 2012 „Temporary Dwellings“ (1974 – 1977); „D‘Après ‚Stimmung‘ “(1973), das sich auf ein Stück von Karlheinz Stockhausen bezieht, wurde 2016 zum ersten Mal gezeigt und gehört nun zur Sammlung des Museums Ludwig. Wie erklären Sie sich, dass das so lange gedauert hat?
All meine Kunst kam viel zu früh. Künstlerinnen hatten in den 1970er Jahren keine Sichtbarkeit. Einzelausstellungen gab es kaum, und in Gruppenausstellungen hatten Frauen einen Anteil von höchstens zehn Prozent, eher weniger. Heute sind es immerhin etwa 30 Prozent.
Trotzdem gab es auch in Ihrer Generation bekannte Künstlerinnen.
Das stimmt, aber sie haben meistens nicht in Frankreich gearbeitet. In Frankreich zeige ich immer noch nicht viel. Es ist hier schwierig für mich, weil die Kunstszene sehr traditionell ist. Als ich in den 1970ern angefangen habe, hatte ich noch eine Einzelausstellung im Musée d’Art Moderne in Paris, aber danach hat sich die Kunstwelt von mir abgewandt.
Warum?
Mein Werk La Roquette, Prison for Women (1974), befasste sich mit dem gleichnamigen Frauengefängnis, ich habe die Zustände dort in Fotos, Zeichnungen, Texten und auf Video verarbeitet, aber mit der Methode der Soziologie. Ich mache eine Art von soziologischer Kunst, so nähere ich mich meinem Gegenstand. So arbeite ich nun mal.
Können Sie das genauer erklären?
Meine Kunst war von Anfang an sehr stark beeinflusst von Soziologie, Anthropologie und Ethnografie. Alles andere hat sich organisch daraus entwickelt. Turkish Immigrants (1977 – 2016) etwa oder auch Temporary Dwellings beschäftigen sich mit türkischen, portugiesischen und algerischen Einwanderern in den Vorstädten. Aber dann hat man gesagt, das ist keine Kunst, das ist Soziologie, das ist Politik. Wer will sich denn die Gesichter von eingewanderten Arbeitern ins Wohnzimmer hängen? Wenn ich meine Sachen wiederum Aktivisten gezeigt habe, haben sie gesagt, das ist zu künstlerisch, warum gehst du nicht ins Gefängnis und unterstützt dort die Gefangenen durch soziale Arbeit? So stand meine Karriere für viele Jahre still.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Frauen arbeiteten oft in Gruppen, das war attraktiver und durchschlagskräftiger. Das war ein feministisches Statement, das in sich selbst politisch war. Man unterstützt sich gegenseitig, kollaboriert für bestimmte Sachen, und danach haben sich die Wege wieder getrennt. Das war vollkommen normal.
Zur Person
Nil Yalter, 81, zählt zu den Pionierinnen einer gesellschaftlich engagierten und technisch versierten Kunst. Geboren in Kairo, aufgewachsen in Istanbul, lebt und arbeitet die türkische Künstlerin seit 1965 in Paris. Breit gewürdigt wird ihr Werk erst seit zehn Jahren
Sie haben als eine der ersten Künstlerinnen in Europa mit Video gearbeitet. Wie sind Sie dazu gekommen?
1973 entdeckte ich die Portapak, das erste tragbare Videoaufnahmegerät, das die US-Armee erfunden hatte. Der erste Künstler, der es benutzt hat, war Nam June Paik. Als mir jemand zum ersten Mal eine Portapak geliehen hat, war ich gleich fasziniert. Ich war eine der Ersten in Frankreich, die sie benutzt hat, und die erste türkische Künstlerin.
Was war für Sie die besondere Qualität dieses Mediums?
Video ermöglichte Frauen, sich auszudrücken, weil es ihnen erlaubte, selbst zu filmen und sich so vom männlichen Blick zu befreien. Als Medium war es nicht besetzt. Es war der Blick auf mich selbst, den mir dieses Gerät erlaubt hat. Man hat das Bild sofort auf einem Monitor gesehen und hat das Ergebnis kontrolliert. Frauen waren mit Video sehr entspannt. Es war wie ein Pinsel, eine Fortsetzung der Hand. Viele Künstlerinnen haben sofort begonnen, es zu verwenden.
In Ihrer ersten Videoarbeit „The Headless Woman or the Belly Dance“ (1974) beschriften Sie Ihren Leib und führen anschließend zu türkischer Musik eine Art Bauchtanz vor. Wie war die Vorgeschichte dazu?
Ich erfuhr über einen Bekannten, der Ethnograf war, von einem Ritual in der anatolischen Landbevölkerung: Frauen, die nicht gehorchten, wurden zu einem muslimischen Priester gebracht, und er entblößte ihren Bauch, um einen rituellen Text darauf zu schreiben. Das war mein Ausgangspunkt, aber der Text, den ich gewählt habe, war ein feministischer Text des Dichters und Historikers René Nelli, der die sexuelle Autonomie der Frau einfordert.
Was ist die Bedeutung des Körpers in Ihrer Arbeit?
Der Text in Belly Dance spricht von psychologischer und körperlicher Verstümmelung weiblicher Sexualität. Und der Ort, wo alles beginnt, ist der Bauch der Frau. Man trägt hier Kinder aus, man empfindet Lust, die von diesem Teil des Körpers ausgeht. Sehen Sie sich all die jungen Leute an, die heute ihre Körper beschriften. Sie verwenden Texte statt Bildern, sogar oft schwierige Texte. Ich habe damals nicht über Tätowierungen nachgedacht, aber heute sieht das oft sehr ähnlich aus.
Text und Sprache nehmen einen prominenten Platz in Ihrem Werk ein.
Ja, von Beginn an. Seit meiner Arbeit über Deniz Gezmiş von 1972 – einen marxistisch-leninistischen Revolutionär, der nach dem Militärputsch in der Türkei 1971 hingerichtet wurde. Ich arbeite in fast all meinen Werken mit Text.
Wie fügt er sich in Ihre Arbeit?
Ich mag es, mit Worten zu spielen. Die ganze konzeptuelle Kunst in den USA der 1960er und ’70er hat mit Text gearbeitet. Ich bin davon beeinflusst. Ich mag die Formen von Buchstaben, ich mag es, sie einzufärben, sie aufzustempeln, ich mag es, sie ästhetisch zu integrieren, sie zu fotografieren, sie zu zeichnen. Schrift ist Teil meines Werkes und wird es immer sein.
Der große Wendepunkt in Ihrer Karriere war die Ausstellung „Wack! Art and the Feminist Revolution“, die 2007 zuerst in Los Angeles stattfand und dann zwei Jahre lang durch die USA tourte. Was hat sich dadurch verändert?
Das war eine tolle Ausstellung, die sehr wichtig für mich war. Nicht für meine Kunst, aber für meine Karriere. Mit der ging es danach steil bergauf. Allerdings war dort dann schon eine neue Generation am Werk, die sich mit denselben Themen befasst hat, an denen ich mich schon 30 Jahre lang abgearbeitet hatte. Die kamen interessiert auf mich zu.
Bekommen Sie viele Reaktionen von jungen Leuten?
Ja, vor allem in der Türkei. Ich beeinflusse eine ganze junge Generation türkischer Künstlerinnen. Sie wussten nichts über mich, kannten meine Arbeiten nicht, weil ich nicht dort war. Sie waren sehr froh, mich zu entdecken, und ich höre plötzlich sehr viel von dort, auch von Studierenden oder von Kunsthistorikern, die über meiner Arbeit promovieren.
Ihre Kunst kehrt dorthin zurück, wo Sie aufgewachsen sind. Ist das Nomadische, das auch Ihre Biografie lange geprägt hat, immer noch ein Teil von Ihnen?
Im meinem Alter bewege ich mich nicht mehr so leicht wie früher. Auch deshalb interessiere ich mich für neue Technologien, weil ich mit ihrer Hilfe viel tun kann, ohne mich vom Fleck zu rühren.
Sind Sie immer noch neugierig auf neue Medien?
Ja, natürlich. Also nicht auf Twitter oder so. Aber ich habe schon einmal ein interaktives Kunstwerk im Internet geschaffen, als das noch ziemlich neu war. So etwas würde ich gerne fortsetzen.
Info
Nil Yalter. Exile is a Hard Job Museum Ludwig, Köln, bis 2. Juni
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