Unversöhnliches

Namibia Deutsche Kolonialgeschichte am Theater aufarbeiten, geht das? Am Schauspiel Köln versucht es Nuran David Calis mit dem Dokumentarstück „Herero_Nama“
Ausgabe 11/2019

Eine Gestalt in einer weißen Kutte sitzt zwischen zwei brennenden Kerzen am Klavier. Sie hat dem Publikum den Rücken zugewandt, die Kapuze ihrer Robe über den Kopf geschlagen und spielt geisterhafte Töne, die sich allmählich zu einer Melodie fügen. Es ist ein Totenlied, dieses Südwesterlied, ein Lied der Deutschen, die Südwestafrika als ihr gelobtes Land verehren, wie Israel Kaunatjike zu Beginn des Stücks Herero_Nama dem Publikum erklärt. Das Lied ist namibianische Folklore geworden, er selbst hat es als Jugendlicher in der Missionsschule in der Hauptstadt Windhoek gelernt. Als er später erfuhr, wofür diese Hymne steht, verbannte er sie aus seinem persönlichen Gesangsrepertoire.

Kaunatjike ist ein Herero-Aktivist, der in Deutschland lebt, und er stellt sich dem Publikum im Schauspiel Köln mit einem klaren Ziel vor: „Ich will die Geschichte aufarbeiten, deswegen bin ich heute Abend hier.“ Zwischen 1884 und 1915 war das heutige Namibia eine deutsche Kolonie. Zwischen 1904 und 1908 wurden dort bis zu 90.000 aufständische Herero und Nama in einem Vernichtungskrieg getötet. Der steht an deutschen Schulen nicht im Lehrplan und findet nur langsam den Weg ins öffentliche Bewusstsein. Anders in Namibia: Der erste deutsche Völkermord ist dort gegenwärtig, wie die Nama-Aktivistin Talita Uinuses beschreibt. Die Schädel der Getöteten, die Gefangene in Konzentrationslagern auskochen und abschaben mussten und die zum Zweck rassistischer Forschung nach Deutschland verschifft wurden, die hier immer noch lagern und um deren Rückgabe zäh gestritten wird, sind die Überreste ihrer Vorfahren: „Das sind für uns keine Schädel, das sind Menschen, und wir sind die Repräsentanten dieser Menschen.“

Nun ist Herero_Nama ein Theaterstück und findet als solches in einem der Alltagssphäre entzogenen Raum statt, dem es sich gleichwohl nur übereignen kann, indem es sich jeglicher Fiktion verweigert und das Reale neu in diesen Raum einspeist. Es stellt die Frage, wie ein Erzählen und ein Sprechen über Schuld, Verbrechen und die Möglichkeit von Versöhnung überhaupt stattfinden können. Ein wichtiger, wenn nicht der entscheidende Bestandteil dieses Unterfangens ist es, Betroffenen eine Bühne zu geben, es geht um bis heute fortbestehenden Traumata, um koloniale Amnesie und die Hinterfragung des kolonialen Blicks auf die Welt, der Opfer wie Täter, deren Nachfahren und daher letztlich uns alle im Würgegriff hat, ob wir wollen oder nicht.

Wiedergutmachungsfantasien

Regisseur Nuran David Calis hat am Schauspiel Köln nach ähnlichem Muster bereits die Keupstraßen-Trilogie (Die Lücke, Glaubenskämpfer, Istanbul) auf die Bühne gebracht. Heute Abend zeigt sich dort der Kulturanthropologe Julian Warner am Unversöhnlichsten, wenn er humanistischen Wiedergutmachungsfantasien eine harsche Absage erteilt: „Ich will nicht, dass du dem Publikum des Schauspiels Köln hier vorgaukelst, sie könnten jetzt noch heile werden. Dass sie jetzt eine Karte kaufen könnten, um dieses Unrecht abzumildern.“ Oder wenn er fragt: „Was soll mich noch interessieren, ob du in der Lage bist, dich schuldig zu fühlen?“ Wenn der „Vernichtungsbefehl“ des preußischen Generals Lothar von Trotha oder Briefwechsel, in denen verschiedene Züchtigungsmethoden in bürokratischer Sprache verhandelt werden, schon für die weißen deutschen Zuschauer kaum erträglich sind, wie geht es dann denen, die auch heute noch darunter leiden und die sich obendrein täglich rassistischen Denkmustern ausgesetzt sehen? Werden sie hier nicht für eine ebenso selbstverliebte wie verlogene Reinwaschung von neuem zu Opfern gemacht? „Warum werden diese Dinge auf der Bühne verhandelt?“, fragt das Stück sich selbst.

Der Text hat sich aus Dialogen und Streitgesprächen ergeben, die sich während der Proben zugetragen haben, das ist eine vielstimmige, dokumentarische Montage, die gleichwohl in einer spukhaften Inszenierung aufgehoben ist: Die Schauspieler*innen Shari Asha Crosson, Yuri Englert und Stefko Hanushevsky schlurfen in ihren Kutten über die Bühne, tragen weiße Masken und pflanzen Holzkreuze in den Boden, zwischen denen sie sich niederlassen. Durch zwei bunte Kirchenfenster fällt sakrales Licht, Nebel steigt auf, in der Mitte eines runden Tischs brennt ein vielarmiger Kerzenleuchter. Räumliche Adressaten der Darsteller*innen sind oft die Kameras, deren Filmbilder zwei große Leinwände füllen. In die Luft gemalte, an expressionistische Stummfilme erinnernde Gesten künden von unheilvollen Plänen und großmächtiger Verblendung.

Die weißen Kutten gehören nicht den Reitern der Apokalypse und auch nicht den Rittern des Ku-Klux-Klan, sondern sie waren die Tracht der rheinischen Missionsgesellschaft, die in Deutsch-Südwestafrika besonders eifrig vorging. Nein, es gibt nichts zu kitten, die Welt ist schon zerbrochen. Wenn uns etwas weiterhelfen kann, so scheint Herero_Nama aus seiner unauflösbaren Vielstimmigkeit heraus zu sagen, dann ist es die Bereitschaft einander zuzuhören. „Uns bleibt nur zu graben, wo wir stehen, und bereit zu sein etwas anderes zu werden, als wir waren“, sagt Julian Warner. Dann geht das Licht aus.

Info

Herero_Nama Ein Projekt von Nuran David Calis Schauspiel Köln

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