„Ventilator und Badethermometer fehlen“: Was das Kunstmuseum Bochum so im Keller fand
Ausstellung Inventur: Viele Museen wissen gar nicht, was in ihren Sammlungen so lagert. Das Kunstmuseum Bochum geht dieses Problem offensiv an – und holt für die Ausstellung „Ist im Keller noch Museum?“ einfach alles nach oben
Was ist Kunst, was kann weg? Das Kunstmuseum Bochum hat einfach alles in seine Ausstellungsräume gestellt
Foto: Heinrich Holtgreve
Gleich wenn man im ersten Stock die geschwungene Rampe verlässt, steht man vor einem grellrot bemalten Stein. Das unförmige Ding, das an einen Lavabrocken oder einen kleinen Meteorit erinnert, hängt mitten im Raum von der Decke. Es ist etwas größer als eine Kartoffel, an seiner höchsten Stelle ist eine Öse eingelassen, an der ebenfalls etwas rote Farbe klebt. Reste eines dünnen, geflochtenen Seils sind damit verknotet. Wer den Blick auf den Boden senkt, der erfährt, was es mit dem rätselhaften Objekt auf sich hat – oder eben gerade nicht: „Künstler:in und Titel unbekannt, Sammlung Kunstmuseum Bochum“, steht da zu lesen. Und so wurde dieser mysteriöse Gegenstand zum augenfälligen Sinnbild der laufenden Ausste
stellung Inventur.Ist das Kunst? Kann das weg? Und was folgt aus der Antwort für den Stein selbst? Wie verwandelt er sich durch ein simples Ja oder Nein, wird aufgeladen mit anderen Werten und Eigenschaften, ähnlich wie das „in Seide verpackte und verschnürte Objekt in Stuckrahmen“ Empaquetage (1963) von Christo oder die golden strahlende Skulptur Royal Winds III (1960) von Louise Nevelson, die de facto aus Sperrmüll wie kaputten Tischbeinen, alten Obstkisten oder Maschinenteilen besteht? Solche Fragen stellt sich das kuratorische Team des Museums derzeit immer wieder. „Ist im Keller noch Museum?“, fragt der Untertitel der Ausstellung, die eine öffentliche Sichtung all dessen ist, was im Skulpturendepot des Hauses lagerte. Und so sind diese Schätze nun ausgebreitet in Regalen, auf improvisierten Plattformen oder Holzpaletten. Der große Ausstellungsraum des Museums ähnelt einer begehbaren Werkstatt, es wird recherchiert, ausgepackt, abfotografiert, verzeichnet. „Was ist das? Wem gehört das?“, steht auf einem hingepappten Post-it, oder an anderer Stelle: „Werktitel? Wie ins Museum gekommen?“ Manchmal sind die Botschaften kurz und knapp: „Titel?“, heißt es an einer Stelle, „Kontext?“ an einer anderen, und mehr als einmal auch nur: „?“Den Keller mal aufzuräumen, war aber auch wirklich dringend nötig. Die Tür zum Raum ließ sich gerade noch öffnen, aber das war es dann auch schon: „Wir konnten rein, aber wir konnten nicht durch. Alles war vollgestellt, ohne für uns erkennbare Logik“, beschreibt Direktorin Noor Mertens ein Phänomen, das manchem bekannt vorkommen dürfte. Und so folgte der nächste notwendige Schritt: Die drei Kuratorinnen, die ihre Stellen am Museum alle erst vor Kurzem antraten, wollten wissen, womit sie es zu tun hatten, nicht nur im Zuge der anstehenden Digitalisierung. Das ist, wie Direktorin Noor Mertens sagt, „ganz normale Museumsarbeit“, nur eben vor statt hinter den Kulissen, oder, etwas dramatischer formuliert: „eine Operation am offenen Herzen“.Das Museum wandelt sich dadurch vom ehrfürchtigen Elitentempel zu einem Ort, der sich recht entspannt mit den eigenen Unzulänglichkeiten auseinandersetzt, die so oder ähnlich viele Institutionen betreffen. „Wir müssen nicht so tun, als wüssten wir alles, sondern wir müssen dieses Moment der Zufälligkeit und Unfertigkeit gemeinsam aushalten“, sagt Mertens. Voraussetzung dafür sei die Bereitschaft, einen Teil der eigenen Deutungshoheit abzugeben. „Es ist unser Selbstverständnis als städtische Einrichtung, zu sagen, wir schaffen nicht alles alleine, sondern wir brauchen die Besucher*innen, die uns bereichern, inspirieren, stören, unterstützen“, sagt die stellvertretende Direktorin Eva Busch. An die Stelle einer hierarchischen Erklärwelt tritt geteilte Neugier. Das Museum wird porös, macht sich angreifbar – für das Publikum eine erfrischend ehrliche Dimension der Teilhabe, auch durch Formate wie die wöchentlichen „Inventurgespräche“ und „Chaosbegehungen“.Auch Kunst altert und stirbtDas Ergebnis ist ein Überschuss an Energie, wo vorher bleierne Unmöglichkeit herrschte. Kunstwerke wie das Katzendenkmal (1968) des Schweizer Aktions- und Objektkünstlers Dieter Roth kamen ans Tageslicht – eines seiner Schimmelbilder, von dessen Ankauf 1975 glücklicherweise ein Foto existiert. Die aus Schokolade geformte, vergängliche Skulptur ist nur noch ein unkenntliches Häufchen Elend aus lauter Krümeln. Es habe etwas Beruhigendes, findet Co-Direktorin Julia Lerch Zajączkowska, dass auch Kunstwerke nicht für die Ewigkeit bewahrt werden können, dass sie wie der Mensch mit der Zeit altern und irgendwann sterben. Informationen werden in Detektivarbeit aus alten Katalogen, unvollständig geführten Karteikarten oder auch ganz unwissenschaftlichem Expertenwissen zusammengetragen, wie etwa den persönlichen Erinnerungen eines Ausstellungsbetreuers, der seit Jahrzehnten im Museum arbeitet.Eine ganz besondere Herausforderung ergibt sich dann, wenn ein Kunstwerk aus mehreren Objekten besteht, wie etwa Activity Relict for Bochum des Fluxus-Künstlers Allan Kaprow. „Objekt, Holz, Textil, Klebeband, Metall, Motor, 1973“, steht in der Beschreibung. „Hemd und Bügel fehlen“, ist dort angemerkt, wobei das Hemd, stark verschmutzt, inzwischen wieder aufgetaucht ist. „Ventilator und Badethermometer fehlen“, steht auf einem anderen, ans Kunstwerk angehefteten Notizzettel. Die Gebrauchsobjekte hat womöglich einfach mal irgend jemand aus dem Keller mitgenommen.Placeholder infobox-1
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