Alltag an einem Berliner Gymnasium: Seit drei Jahren ist das Schulgebäude im Süden der Stadt teilweise stillgelegt. Im Dachstuhl steckt Hausschwamm, der das Holz der Balken zerstört, hatte das Bauamt damals festgestellt. Viele Räume sind deshalb nicht mehr benutzbar. Seitdem drängen sich die Schüler für ihren Unterricht in den restlichen Klassenzimmern zusammen. Im Sommer dieses Jahres beginnt nun die Sanierung. Sie könnte bis zu fünf Jahre in Anspruch nehmen. Viele Schüler dürften ihre gesamte Gymnasialzeit in einem maroden Schulhaus beziehungsweise auf einer Baustelle zu verbringen.
Die Ursache für solche Missstände liegt auf der Hand: Berlins Finanzen sind immer noch in einem miserablen Zustand. Es fehlt das Geld, um die öffentliche Infrastruktur instand zu halten. Bis ein paar Millionen Euro zusammengekratzt sind, brauchen die Bezirksämter oft Jahre. Auf fünf bis zehn Milliarden Euro wird der Investitionsstau in der Hauptstadt insgesamt geschätzt. Diese Summe müsste der Senat eigentlich in die Sanierung der Schulen, öffentlichen Gebäude und Verkehrswege stecken, um ihren Wert überhaupt zu erhalten. Hinzu kommen weitere öffentliche Aufgaben, die ebenfalls unterfinanziert sind. Um den Anstieg der Immobilienpreise in Grenzen zu halten, sollten mehr günstige Wohnungen mit staatlicher Förderung errichtet werden, die sich auch Bürger mit niedrigen Einkommen leisten können. Zusätzliche Lehrer, Mitarbeiter bei den Bürgerämtern und der Polizei sowie eine großzügigere Unterstützung mittelloser Einwohner wäre ebenfalls wünschenswert.
All das hält der Senat aus SPD und CDU für unmöglich, weil die Stadt knapp bei Kasse ist. Sie schleppt einen schweren Rucksack mit Altlasten. Die Gesamtverschuldung der Stadt liegt immer noch bei stolzen 62 Milliarden Euro. Die Arbeitslosigkeit liegt mit über zehn Prozent in der bundesweiten Spitzengruppe, der Anteil der Hartz-IV-Empfänger und Niedriglohnjobber ist überdurchschnittlich. Demzufolge fließen die Steuereinnahmen spärlich. So hängt Berlin am finanziellen Tropf des Bundes und der anderen Länder.
Was die allgemeine soziale und wirtschaftliche Lage angeht, sieht es in Hamburg deutlich besser aus. Die Hansestadt lebt von ihrer Industrie und dem Hafen. Außerdem ist die Schicht alten Reichtums an der Elbe dicker als an der Spree. Aber auch Hamburg hat in den vergangenen Jahrzehnten einen rigiden Sparkurs betrieben, der die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen verschlechterte.
Angesichts dieser Entwicklung fragen sich viele Bürger: Wofür brauchen wir Olympische Spiele? Beide Stadtregierungen wollen sich für die Austragung des größten Sportereignisses der Welt 2024 oder 2028 bewerben. Sie versprechen sich Aufmerksamkeit und Prestige – doch die Spiele auszurichten ist auf jeden Fall auch eins: teuer. Wäre es da nicht ratsam, erst mal die naheliegenden Aufgaben zu erledigen und die Lebensqualität der Einwohner zu heben, bevor man an die Annehmlichkeiten für Sportler und Besucher aus aller Welt denkt? Ist es nicht dringender, kaputte Straßen zu reparieren als ein neues Schwimmstadion zu bauen? Mindestens aber sollten die Bedürfnisse der Bürger nicht leiden unter den Planungen für Olympia.
Luftballon, Feuer, Krapfen
Die Bewerbungsverfahren in beiden Städten laufen dennoch bereits auf Hochtouren. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) ließ vom Umfrage-Institut Forsa jeweils 1.500 repräsentativ ausgewählte Bürger befragen, was sie von der Bewerbung um die Spiele halten. Die Ergebnisse wurden März veröffentlicht. Danach will der Verband eine Empfehlung aussprechen, welche der beiden Städte ins internationale Rennen geht. Später könnte in Hamburg oder Berlin eine Volksabstimmung folgen. Im Herbst 2017 wird schließlich das Internationale Olympische Komitee (IOC) über den Austragungsort entscheiden. Mit im Rennen ist Boston, möglicherweise bewerben sich auch Paris und Rom.
Um die Bürger zu überzeugen, haben sich die Politiker bisher einiges an Werbemaßnahmen ausgedacht. Der Berliner Senat hielt eine Sitzung im Olympiastadion ab. Innen- und Sportsenator Frank Henkel (CDU) entzündete vorher eine Fackel, die das Olympische Feuer symbolisieren sollte. Dazu stiegen Luftballons in den Himmel. Henkels Parteikollege, Justizsenator Thomas Heilmann, hatte mit seiner Aktion hingegen weniger Glück. Als er kürzlich zur Olympia-Werbung in einer Markthalle in Kreuzberg mit fünf Ringen versehene Krapfen verteilte, die Häftlinge der Justizvollzugsanstalt Tegel gebacken hatten, störten ihn Kritiker mit lauten Parolen.
Auch in Hamburg ließ die Regierung sich nicht lumpen. Der Senat brannte ein „olympisches Feuer“ rund um die Alster ab. Überhaupt ist in der Hansestadt mehr Optimismus zu spüren. Die Zustimmung der Bevölkerung scheint größer als in Berlin. Vor einem halben Jahr ergab eine Umfrage, dass 53 Prozent der Hamburger die Spiele begrüßten. 44 Prozent lehnten die Bewerbung ab. In Berlin sprachen sich nur 48 Prozent dafür und 49 Prozent dagegen aus.
Trotz dieses Stimmungsbildes: Viele Fragen zu Olympia sind noch offen. Es ist nur wenig darüber bekannt, wie sich die Verwaltungen die Spiele genau vorstellen. Aus Hamburg weiß man allenfalls, dass ein Hafenareal am Südufer der Elbe gegenüber der Hafencity das Zentrum des Olympia-Geländes bilden soll. Dort könnten zahlreiche Sportstätten und Wohnungen für Sportler entstehen, die man hinterher für die Bevölkerung weiter nutzen will. Für Hamburg wäre das eine abermalige Stadterweiterung auf das Gelände des Hafens. Die Umsiedlungskosten der Hafenbetriebe, die dort jetzt noch arbeiten, soll der Stadtstaat übernehmen.
In Berlin plant der Senat, das olympische Dorf auf dem Gelände des heutigen Flughafens Tegel zu bauen – wenn der neue Hauptstadt-Airport BER bis dahin denn wirklich eröffnet sein sollte. Ansonsten könne man viele der bereits bestehenden Sportstätten weiter verwenden, so die Landesregierung, auch das alte Olympiastadion. Nur etwas modernisieren müsse man – das wäre vergleichsweise billig. Ob das stimmt, steht in den Sternen. „Weder für Hamburg noch für Berlin liegen belastbare Investitions- und Kostenplanungen vor“, sagt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, „grundsätzlich ist mit erheblichen Aufwendungen zu rechnen, die sicher einen höheren einstelligen, vielleicht sogar einen zweistelligen Milliardenbetrag erreichen können.“
Woher aber soll dieses Geld kommen? Hamburg hat bei der Finanzierung eine bessere Ausgangsbasis als Berlin. Im Vergleich zu ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung ist die Hafenstadt mit knapp 30 Prozent verschuldet, Berlin mit 60 Prozent. Aber auch die Hansestadt könnte mehrere Milliarden Euro für Olympia-Investitionen nicht aus den laufenden Einnahmen bestreiten. Als zusätzliche Finanzquellen kämen Zuschüsse des Bundes infrage, neue Schulden oder Einsparungen an anderen Stellen des Landeshaushaltes. Letzteres würde die Lebensqualität der Einwohner beeinträchtigen.
Woher kommt das Geld?
An der Spree ist die Lage ungleich prekärer. Im Gegensatz zu Hamburg lebt die Hauptstadt zum großen Teil von Überweisungen anderer Bundesländer. Rund drei Milliarden Euro aus dem Länderfinanzausgleich fließen jedes Jahr nach Berlin. Dass der politische Wille dazu nicht auf ewig vorhanden sein muss, zeigt die Klage Bayerns und Hessens beim Bundesverfassungsgericht. Weil außerdem ab Ende des Jahrzehnts die grundgesetzliche Schuldenbremse wirkt – Bundesländer dürfen dann unter dem Strich keine Kredite mehr aufnehmen –, besteht die Gefahr, dass die Einschnitte im Berliner Landeshaushalt besonders drastisch sein könnten. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) weist diese Vermutung allerdings zurück: Beides sei möglich – Olympia plus die Renovierung von Turnhallen und Schulen. Man tut allerdings gut daran, dies als Absichtserklärung und nicht als solide Planung einzustufen.
Um Kahlschläge zulasten der Bevölkerung zu vermeiden, sollten die Olympia-Kritiker in beiden Städten deshalb fordern: „Kein Geld für die Spiele ohne Geld für die Stadt“. Für jeden Euro, der in das Großereignis investiert wird, sollte die jeweilige Landesregierung einen Euro in Schulen, Kindertagesstätten, Sozial- und Flüchtlingshilfe investieren. Olympia kann eine schöne Sache sein. Es macht Spaß, die Welt zu Gast zu haben. Erinnern wir uns an die Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Die finanziellen Folgen eines solchen Festes dürfen aber nicht für mehrere Jahrzehnte zu Lasten des Alltagslebens gehen.
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