Obszöner Abstand

Besitzverhältnisse Deutschland genießt in puncto Lebensqualität einen guten Ruf und doch driftet die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander – Zeit, etwas dagegen zu tun
Ausgabe 04/2016

In wenigen Ländern der Erde ist das Leben für die meisten Menschen so angenehm wie in Deutschland. Die Lebensqualität ist hierzulande ähnlich hoch wie in der Schweiz, Skandinavien, den Niederlanden, Frankreich oder Großbritannien. Internationale Umfragen zeigen: Deutschland hat einen guten Ruf. Deshalb ist es gegenwärtig das Ziel von Hunderttausenden Auswanderern. Diese würden nicht kommen, wäre unser Land ein Hort der sozialen Ungerechtigkeit, der Korruption, des ökonomischen Raubrittertums oder des politischen Autoritarismus. Und doch nehmen die zentrifugalen Tendenzen in der deutschen Gesellschaft zu. Unabhängig von den aktuellen Entwicklungen stellen sie den sozialen Zusammenhalt schon seit Langem auf die Probe.

Die Zahlen aus dem Bundessozialministerium, die gerade diskutiert werden, sprechen für sich. So verfügten 2013 die reichsten zehn Prozent der Bundesbürger über mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens im Land (51,9 Prozent). Dieser Anteil stieg seit 1998 um fast sieben Prozentpunkte. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung hatte 2013 dagegen nur ein Prozent des Vermögens, Tendenz abnehmend.

Weltweit geht die Entwicklung in dieselbe Richtung, wie die Organisation Oxfam vor dem Weltwirtschaftsforum von Davos wieder einmal mitteilte. Demnach haben die reichsten 62 Personen der Welt ungefähr so viel Vermögen angehäuft wie 3,5 Milliarden Menschen – die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Unabhängig von der Kritik am Berechnungsverfahren stimmt vermutlich die Größenordnung. Es ist eine unglaubliche, obszöne Relation.

Dass der Abstand zwischen den Reichen einerseits sowie der Mittelschicht und den Armen andererseits wächst, hat Gründe. Der wichtigste liegt in der neuen Globalisierung seit den 1980er Jahren. Mit dem Wegfall der Blockgrenzen bekamen die Unternehmen mehr Bewegungsspielraum. Weil das sozialistische Konkurrenzsystem keinen mäßigenden Einfluss mehr ausübte, konnten die westlichen Firmen einen härteren Verteilungskampf gegenüber den Beschäftigten und den Regierungen führen. Die Ideologie des Neoliberalismus rechtfertigte dieses Verhalten als unumgänglich.

So stagnierten auch in Deutschland jahrelang die Löhne. Mittlerweile ziehen sie zwar wieder an. An den Verlusten der vergangenen Dekade ändert das jedoch nichts. Die Gutverdiener und Reichen haben einen größeren Anteil an den Einkommen erobert, als es in den 1960er bis 1980er Jahren üblich war. Demzufolge steigt auch die Ungleichheit der Vermögen, was wiederum zu höheren Kapitaleinkommen und damit weiterer Spreizung der Verdienste führt.

Die zunehmende Polarisierung in Deutschland ist noch nicht dramatisch. Weil die Mittelschicht zwar leicht abnimmt, aber keineswegs zerbröselt, erscheint das soziale Fundament dieser Gesellschaft nicht gefährdet. Aber die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich seit Jahren immer weiter. Das alleine müsste schon Grund genug für die Regierung sein, endlich mehr zu tun als bisher. Die Vorschläge liegen ja auf dem Tisch: Die Erbschaftssteuer sollte steigen und Kapitalerträge müssten so hoch besteuert werden wie Arbeitseinkommen – nicht wie heute in der Spitze 20 Prozent niedriger. Eine Börsenumsatzsteuer wäre wichtig, um spekulative Transaktionen abzuschöpfen. Und Großverdiener sollten die Sozialversicherungssysteme stärker mitfinanzieren. Nur weil die Verhältnisse nicht ganz so obszön sind wie im globalen Maßstab, ist das noch lange kein Grund, untätig zu bleiben.

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