Zehn Jahre nach ihrem Anlass ist die »Wendeliteratur« - oder wie immer man Bücher nennen mag, die vom Ende der deutschen Teilung und ihren aktuellen Erscheinungsformen handeln - so unübersichtlich wie ihr Gegenstand. Obwohl die Literaturkritik immer noch auf den Wenderoman wartet, ist das Sortiment breit gefächert: Da gibt es AutorInnen, die sich an Enttäuschung, Unterdrückung und Verrat abquälen und andere, die trotzig der zugrunde gegangenen DDR hinterher trauern. Neben dem biederen Weiter-Schreiben mit veränderten Inhalten steht das mehr oder weniger angestrengte Formexperiment. Literarisierte Tagebücher konkurrieren mit den Berichten derer, die das Neue anderswo, auf Reisen, suchen - und dort oft nur das Alte wiederfinden.
Und dann gibts
dann gibts da noch die Erzählungen und Romane von Klaus Schlesinger, Geschichten und Geschichtchen, die in keines der verfügbaren Raster passen: Großtadt-, Berlin-Romane? Am ehesten Kiez-Romane - aber auch nur auf den ersten Blick. Denn hinter dem vordergründig unspektakulären Alltag seiner wenig spektakulären Figuren Kotte, Matulla oder Thomale blitzen zentrale Fragen der Zeitgeschichte auf. Schlesingers kurzweilig-exakte Milieuzeichnungen gruppieren sich in einer eigenartigen Mischung aus anheimelnder Atmosphäre und Welthaltigkeit zum Tableau deutscher Nachkriegs-Geschichte von unten.Sein jüngster Roman Trug operiert zwar mit anderem Personal, spielt teilweise auch an anderen Schauplätzen, evoziert aber vergleichbare Stimmungen. Wie in Schlesingers Büchern Alte Filme oder Die Sache mit Randow geht es um Sehnsucht, Verlust, nicht mehr Mögliches. Dem real untergegangenen Sozialismus wird keine Träne nachgeweint; es werden Lebensabschnitte, Lebensformen und Liebesmöglichkeiten erinnert, die sicher nicht exklusiv für dieses Milieu waren, aber halt dort erfahren und erlebt wurden. Die in Trug erzählte Geschichte aus dem geteilten Deutschland spielt unterhalb der politischen Ebene, aber sie idyllisiert die Verhältnisse nicht. Sie zeichnet die Innenseite deutsch-deutscher Zustände nach - das, was Christoph Hein »das Hemd der Geliebten« (im Gegensatz zum »Mantel der Geschichte«) genannt hat.Ihre Hauptfigur Strehlow, Anfang der sechziger Jahre aus der DDR weggegangen und mittlerweile leidlich erfolgreicher Angestellter einer Düsseldorfer Immobilienfirma, reist Mitte der Achtziger nach West-Berlin, um sich mit einem todsicheren Geschäft zu sanieren. Auf dem Weg zum Termin wird er durch eine Betriebsstörung der U-Bahn im Bahnhof Friedrichstrasse aufgehalten. Er versucht, von Ostberlin aus zu telefonieren, muss erkennen, dass diese Idee weltfremd ist, hat aber beim Gang über die Friedrichstrasse unversehens das Gefühl, »nicht nur in eine andere Stadt, sondern in eine andere Zeit geraten« zu sein. Er lässt sich im Cafe nieder, verliert sich in Gedanken, Wehmut und Erstaunen darüber, »dass die Erinnerung an eine Zeit, die er vor mehr als zwanzig Jahren so schroff und endgültig hinter sich gelassen hatte, eine derart angenehme Empfindung in ihm wachrufen kann, vergleichbar nur der nach einem erfolgreichen Flirt oder nach einer Glückssträhne am Roulettetisch.«Befördert werden solche Gefühle durch (zufällige?) Gespräche mit einem Fremden, der wie Strehlow einst in Weissensee Architektur studiert hatte, dort wohnt, wo Strehlow vor seinem Weggang aus der DDR gewohnt hatte, und gekleidet ist wie dieser, bevor er sich westdeutschen Standards und beruflichen Gepflogenheiten anpassen muss te. Die Gespräche mit diesem Fremden, vor allem aber die Aussicht, durch ihn die in der DDR zurückgebliebene, aber nie vergessene Freundin wiederzusehen, führen Strehlow auch an den folgenden Tagen nach Ost-Berlin zurück. Der Roman gipfelt im erhofft schönen Wiedersehen mit der alten Liebe - und in einer Überraschung bei der mitternächtlichen Rückkehr in den Westteil der Stadt.Was wäre aus Strehlow geworden, was hätte aus ihm werden können, wenn er geblieben wäre? In den Kaffehaus-Gesprächen mit dem Fremden (Doppelgänger, alter ego, Gauner?), im Aufsuchen früherer Lebensorte, im glücklichen Wiederfinden der einst zurückgelassenen Geliebten entfalten sich parallele Lebensläufe. Zwei Leben im Systemvergleich - schwer zu entscheiden, welches erstrebenswerter ist: Strehlows Berufskarriere gegen das zufriedene Scheitern des andern; seine Hektik gegen dessen Abgebrühtheit und Ausgeglichenheit; die zickige Düsseldorfer Freundin gegen die immer noch begehrenswerte Geliebte in der Rykestraße. Strehlows eigene Entscheidung wird schließlich durch ein kleines Missgeschick besiegelt.In der Zusammenfassung mag das nach Ost-West-Klischees klingen. Die entpuppen sich in Schlesingers literarischem Vexierspiel allerdings unversehens als Wahrheiten: divergierende Lebensmuster in Alltag, Beruf und Liebe. Sie werden nicht aufgerechnet gegen Unfreiheit und politische Unterdrückung; sie verschwinden aber auch nicht hinter den Votivtafeln politischer Korrektheit. Trug ist einer dieser DDR-Romane, die - unabhängig von der Zensur - zu Lebzeiten des Landes nicht geschrieben werden konnten, weil ihr verspielter Gestus verschüttet war unter den Aufgeregtheiten der deutschen Teilung.Klaus Schlesinger: Trug. Roman, Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 180 S., 32.- DM