Tief im Westen gibt es was zu feiern. Gleich zwei bedeutende Kulturinstitutionen in Bochum feiern Geburtstag: Das Schauspielhaus und die Symphoniker werden 100 Jahre alt. Beide verbindet viel, war doch das Stadtorchester einst zur Unterstützung des Theaterbetriebs gegründet worden. Doch wie so oft verläuft die gemeinsame Historie nicht parallel, sondern scheinbar gegenläufig. Während das Schauspielhaus mit dem neuen Intendanten Johan Simons furios in die Saison startete, stehen die BoSys vor einem großen Umbruch. Der langjährige Generalmusikdirektor Steven Sloane hat seinen Abschied bekannt gegeben, spätestens im Sommer 2020 muss ein Nachfolger vor Ort sein.
So hat schon zum Jubiläumskonzert im Februar – es gab Georg Friedrich Händels Messiah – nicht derjenige am Pult gestanden, den man in Bochum vor mehr als zwanzig Jahren wie einen Erlöser begrüßt hatte. Sloane, der dem kulturellen Leben der Stadt seitdem ein Gesicht gibt, hat den feierlichen Akt seinem musikalischen Assistenten John Lidfors überlassen. Zur Unterstützung hatte man sich Gäste ins Anneliese-Brost-Musikforum Ruhr eingeladen. Mitglieder des Sheffield Philharmonic Chorus ergänzten das Ensemble des Abends. Aber nicht nur die Intonation des englischen Textes sollte geschärft werden. Sheffield und Bochum, einst als Partnerstädte im Pulsschlag aus Stahl vereint, finden regelmäßig musikalisch zueinander, selbst in Zeiten, da der Brexit die gemeinsame Sonne verstaubt.
John Lidfors gibt dem Konzert einen beschwingten Auftakt. Schon in der Symphony – dem zauberhaften Vorspiel zum Messiah – spürt er Händels Sinn für schöne Töne nach. Mit kleinen Gesten gibt er dem Orchester Raum für das barocke Klangbild. Tenor Colin Balzer weiß das zu nutzen und setzt mit Comfort ye schon zu Beginn ein gesangliches Ausrufezeichen. Der so gespendete Trost weckt Erwartungen, und die Solisten des Abends meistern ihre Sache souverän. Franziska Gottwalds Alt ist maßgeschneidert für Händels Melos. Ihre Arie O thou that tellest good tidings ist ein musikalisches Kirchenfenster. Dabei behält sie etwas Archaisches im Ausdruck: Nie wird die mythische Erzählung allzu süßlich verklärt.
Der Komponist Händel weiß gut, was sein Publikum hören möchte. Dem weltlichen Körper des Messiah im Gewand des geistlichen Oratoriums verleiht er Esprit durch schillerndes Glasperlenspiel. Siri Karoline Thornhill – an diesem Abend für die ganz hohen Töne zuständig – lässt Sechzehntelkoloraturen blitzen. Die Arie Rejoice greatly, o daughter of Zion ist ein Beispiel dafür, was Händels Librettist Charles Jennens mit „Grand Musical Entertainment“ gemeint hat. Nur noch Geister der Erinnerung sind die Koloraturen allerdings, wenn die Sopranistin im schönsten Moment des Konzerts in ihrer vorletzten Arie die Überzeugung zum Ausdruck bringt, dass der Messias doch eigentlich Teil dessen ist, was wir selber sind: „I know that my Redeemer liveth.“
Dramaturgisch geschickt resultiert dieses kontemplative, nach innen gekehrte Stück aus dem musikalischen Höhepunkt. Hallelujah! ist das offene, unaufhaltsame Bekenntnis zu Gott. Das wissen – wie schon zuvor der Händel-Bewunderer Mozart – auch John Lidfors und die Mitglieder der unwiderstehlichen Chöre. Come and rock me, Georg-Friedrich!
In Bochum wird Händels Oratorium aber nicht zur Nummernrevue. Einen großen Anteil daran hat Bassist Tobias Berndt. Sein Klang trägt den Spannungsbogen über die gesamte Aufführungsdauer. In den Rezitativen und in den Arien, wie dem magischen Behold, I tell you a mystery, rahmt er das Klangbild des Messiah ein. Am Ende stehen alle und feiern das Orchester, die Chöre, die Solisten, den Dirigenten und ein bisschen auch das Drumherum – wie es bei Jubiläen eben so ist.
Wo das Herz noch zählt
Händels Messiah, so sagen einige, sei nicht für die Kirche, sondern für das Konzerthaus komponiert. In Bochum ergibt das keinen Konflikt. Zwar lässt sich darüber streiten, ob die Musik nun spirituellen oder weltlichen Charakters sei, aber der Aufführungsort trägt beiden Betrachtungsweisen Rechnung. Das Musikforum ist nach langen Jahren der Planung und der Ungewissheit an gewissermaßen sakralem Ort entstanden. Herzstück und Blickfang des modernen Klinkerbaus ist ein neogotisches Kirchenschiff samt Turm. Mitten in der Innenstadt hatte St. Marien lange leer gestanden, war entweiht und mochte für diejenigen, die den Stern des Abendlands im Sinken begriffen sehen, als Symbol für alles gestanden haben, was falsch läuft im Revier und sonst wo auf der Welt. Sie dient heute – aufwendig renoviert – als strahlend helles Foyer des Musikforums.
Seit 2017 liegt gegenüber dem Bochumer Bermuda3eck die Spielstätte des besten Orchesters im Pott. Die brache Kirche ist durch den Umbau und den Anbau eines großen Saals links und eines kleinen Kammermusiksaals rechts über sich hinausgewachsen. In Bochum wollte man andere Wege gehen als in den Nachbarstätten, wo auch schöne Konzerthäuser stehen. Aber diese sind häufig Spielstätten für auswärtige Orchester, für die Champions League aus Berlin, Wien und London. Hier, wo das Herz noch zählt, hat man ein Konzerthaus konzipiert, das eng mit der Stadt und ihren Bewohnern verbunden ist – so wie die BoSys eben auch, wenn sie Stadtteilkonzerte spielen oder alljährlich am Ende einer Konzertsaison unter freiem Himmel ihren Ausstand geben. Das Bier gibt’s in den Kneipen der weltberühmten Partymeile, die Musik dazu leitet einer, der nun auf Lebenszeit Ehrendirigent seines Orchesters werden soll.
Steven Sloane hat es geschafft, den Bochumer Symphonikern eine Heimat zu geben. Fast vergessen sind die Zeiten, da die BoSys darauf angewiesen waren, als Gäste im Schauspielhaus zu spielen und einander räumlich und institutionell Konkurrenz zu machen.
Ob es einen Messias schon mal nach Bochum verschlagen hat, ist nicht ganz sicher. Aber so ist es eben mit den Erlösern. Johan Simons hat das Schauspielhaus im Sturm genommen. Steven Sloane wird gehen, ein nächster Generalmusikdirektor soll kommen und die Geschichte der Bochumer Symphoniker weiterschreiben. Bochum kann warten.
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