Abgespeckt, kapitalgedeckt

GROSSE KOALITION SPD, Grüne und CDU/CSU demontieren die soziale Altersversorgung

Es war Horst Seehofer (CSU), der zu seiner Zeit als Gesundheitsminister die "Struktur" als Gegenstand von Reformen entdeckt hat. Seit seiner "Gesundheitsstrukturreform" kommt nahezu jede Reform als "Strukturreform" daher. Daran hat sich mit der Ablösung der christlich-liberalen Bundesregierung nichts geändert: Auch Walter Riesters Vorlage für eine Neuordnung der Alterssicherung bläht sich rhetorisch zur "Rentenstrukturreform".

Wirft man einen Blick hinter diese Wortfassade, so bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass sich die rot-grüne Rentenpolitik am Grundproblem der Alterssicherung vorbeimogelt. Das Bruttoinlandsprodukt steigt langsam, aber stetig und auf hohem Niveau - und für die Rentenkasse fällt immer weniger ab, denn die Lohnquote sinkt und mit ihr das Beitragsaufkommen. Es wird also immer mehr Geld verdient, von dem keine Mark in den Sozialkassen hängen bleibt, der Sozialsektor wird von der Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums abgekoppelt. Diese fatale Tendenz zu stoppen, wäre die Aufgabe rot-grüner Sozialpolitik, misst man sie an ihrem eigenen Anspruch, für soziale Gerechtigkeit einzustehen.

Riesters Rentenstrukturreform, sollte sie denn verwirklicht werden, wird das Gegenteil erreichen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden für ihre Alterssicherung tiefer in die Tasche greifen müssen, die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung werden gründlich abgespeckt. Frohlocken können die Arbeitgeber, deren Anteil am Rentenbeitrag de facto eingefroren wird, und die Versicherungswirtschaft, die mit der Privatvorsorge fürs Alter ein glänzendes Geschäft machen wird.

Bislang sollte die gesetzliche Rente den Lebensstandard im Alter sichern. Diesen Anspruch hat sie aus den verschiedensten Gründen vielfach nicht einlösen können, aber die Politik kam bisher bei allen Eingriffen ins Rentensystem an diesem Grundsatz nicht vorbei. Riesters Rentenstrukturreform gibt diesen Anspruch ausdrücklich auf, die Rente verkümmert zum Zubrot. Langfristig wird, das hat der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) ausgerechnet, das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung von derzeit 70 Prozent des durchschnittlich verfügbaren Nettoeinkommens auf 54 Prozent sinken. Für die künftigen Rentnergenerationen brechen wahrlich magere Zeiten an.

Daher soll, nach dem Willen der rot-grünen Bundesregierung, ein jeder privat vorsorgen, um so die immer dürftigeren Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung aufzufangen. Das tun schon heute rund 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Künftig allerdings soll die private Vorsorge nach Riesters Plänen die beitragsfinanzierte Rente mindern - um die Hälfte einer hypothetisch errechneten kapitalgedeckten Rente. VDR-Geschäftsführer Franz Ruland befürchtet, dass damit ein Weg beschritten wird, "der zu einer Reduzierung der gesetzlichen Rentenversicherung auf eine subsidiäre Grundsicherung führen kann".

Ab kommendem Jahr sollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zunächst mit 0,5 Prozent ihres Bruttoeinkommens privat vorsorgen. Dieser Satz wird bis 2008 stufenweise auf vier Prozent steigen. Wenn dann der Rentenbeitrag, wie von Riester vorgesehen, tatsächlich bei 20 Prozent liegt, so zahlen die Arbeitgeber 10 Prozent, die Arbeitnehmer insgesamt 14 Prozent vom Brutto. Die derzeitige paritätische Finanzierung der Alterssicherung wird zu Lasten der Arbeitnehmer aufgegeben.

Auch die Rentnerinnen und Rentner bleiben von der rot-grünen Strukturreform nicht verschont. In den Jahren 2000 und 2001 wird ihre Rente nicht nach der Nettolohnentwicklung, sondern nur entsprechend der Inflationsrate erhöht. Das Rentenniveau sinkt so von rund 70 auf rund 65 Prozent. Anschließend sollen, wie der Arbeitsminister versichert, die Renten wieder den Nettolöhnen folgen. Die aber werden durch die Beiträge zur Privatvorsorge gedrückt, die Anpassungskurve wird mithin wesentlich flacher verlaufen, und "Minusanpassungen" sind nicht mehr auszuschließen. Dies führe dazu, so der VDR, "dass der aktuelle Rentenwert bereits im Jahr 2009 um zwei Prozent niedriger ausfällt als nach den bisherigen Reformmodellen der Bundesregierung".

Dass die Alterssicherung nur durch eine kapitalgedeckte Privatrente neben der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente zukunftssicher gemacht werden könne, ist ein unbewiesener Glaubenssatz. Aber wenn schon ein Kapitalstock sein muss, warum auf dem privaten Anlagemarkt und nicht im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung? Das brächte größere Sicherheit für die Anleger und breiteren finanziellen Spielraum für Maßnahmen des sozialen Ausgleichs - für Kindererziehung etwa, Aus- und Fortbildungszeiten und für die Absicherung bei Erwerbsunfähigkeit. Auch eine Mindestrente zur Vorbeugung gegen Altersarmut wäre denkbar, ohne das Rentenrecht mit dem Sozialhilferecht verquicken zu müssen. Aber gegen all das stehen natürlich die mächtigen Interessen der privaten Versicherungswirtschaft, die ihrerseits lediglich zur Rückzahlung der eingezahlten Beiträge verpflichtet werden soll.

Verlierer der rot-grünen Rentenreform werden auf jeden Fall all jene sein, die sich wegen geringen Einkommens eine private Vorsorge nicht leisten können. Ihr gesetzlicher Rentenanspruch wird ohnehin niedrig sein und zusätzlich so gekürzt werden, als ob sie privat vorgesorgt hätten. Daran wird auch der staatliche Zuschuss von maximal 33 Mark im Monat nichts ändern, auf den Geringverdiener mit einem Jahreseinkommen von bis zu 35.000 Mark (Ehepaare 70.000 Mark) Anspruch haben. Ähnlich verhält es sich mit der von der CDU/CSU geforderten Steuerbefreiung für die Beiträge zur privaten Vorsorge - für Menschen mit geringem Einkommen ein Tröpfchen auf den heißen Stein. Da bleibt nur noch der Gang zum Sozialamt.

Trotz allen Geplänkels im Vorfeld des "Rentengipfels" am 13. Juni beim Kanzler ist eine große Rentenkoalition aus Rot-Grün und CDU/CSU zu erwarten. Die Demontage der sozialen Altersversorgung wird wohl nicht aufzuhalten sein. Es bleibt einzig das Mittel gewerkschaftlicher Gegenwehr, etwa ein tariflicher Ausgleich für die Zusatzbelastung durch die Beiträge zur privaten Vorsorge.

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