Familie ist dort, wo Kinder sind

REFORM STATT ABBAU DER SOZIALVERSICHERUNGEN Für Kinder sollte es nicht mehr Geld nach Kassenlage, sondern nach Bedarf geben

Wird man sich künftig Kinder zulegen, um geringere Beiträge zur Sozialversicherung zahlen zu müssen, so wie man sich schon heute eine Immobilie kauft, um Steuern zu sparen? So schwer es fällt, sich mit diesem Gedanken anzufreunden - das ist nur ein marginaler Aspekt, der sich in der Praxis kaum auswirken dürfte. Das Karlsruher Urteil ist eine schallende Ohrfeige - keineswegs die erste - für eine Familienpolitik, deren hoch entwickelte Rhetorik im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Effizienz steht.

"Deutschland ist keine kinderfreundliche Gesellschaft", sagte der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) am vorigen Wochenende in der Bild am Sonntag. Tatsächlich, die Entscheidung für ein Kind oder mehrere ist für die meisten Eltern eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung für den Verzicht: Verzicht auf Einkommen bei höheren Ausgaben, Verzicht auf eine Berufstätigkeit meist für die Mutter und nicht zuletzt Verzicht auf so manches Statussymbol, das die Spaßgesellschaft heutzutage jungen Leuten unnachsichtig abverlangt. Vor allem für alleinerziehende Mütter hat der Verzicht oft einen anderen Namen: Armut. Der Gang zum Sozialamt ist für viele vorgezeichnet.

Die Ohrfeige des Bundesverfassungsgerichts ist berechtigt. Kinder sind keine Privatsache, sondern eine Angelegenheit der gesamten Gesellschaft, die sich durch Kinder reproduziert. Das höchste deutsche Gericht hat das erkannt - und zieht daraus die falsche Konsequenz. Die Sozialversicherungen sind nämlich hoffnungslos überfordert, wenn es darum geht, Familien zu entlasten, etwa durch nach Kinderzahl gestaffelte Sozialversicherungsbeiträge. Familienlastenausgleich ist eine Angelegenheit aller, nicht nur der Beitragszahler. Wieso sollten Beamte, Unternehmer oder Politiker ausgenommen sein?

Der Karlsruher Spruch wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet, etwa: Wie viele Beitragspunkte ist denn die Erziehung eines Kindes wert? Soll auch der Arbeitgeberanteil sinken, so dass Kinderlose auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt wären? Was passiert, wenn die Kinder als Erwachsene nicht sozialversichert sind und deshalb keine Beiträge leisten?

Die richtige Konsequenz aus dem Pflegeversicherungs-Urteil wäre, endlich eine Familienpolitik aus einem Guss zu konzipieren. Zuerst müsste der biedermeierliche deutsche Familienbegriff der gesellschaftlichen Realität angepasst werden. Familie ist überall dort, wo Kinder sind: in einer ehelichen oder nichtehelichen Gemeinschaft, bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern, bei einem lesbischen oder schwulen Paar mit Adoptivkindern. Eine logische Konsequenz wäre, das steuerliche Ehegattensplitting durch ein Familiensplitting zu ersetzen.

Zur Zeit zahlt Vater Staat für das erste und zweite Kind je 270 Mark Kindergeld pro Monat. Ob die nächste Erhöhung (im nächsten Jahr ist Bundestagswahl) 30 oder nur 10 Mark betragen wird, hängt von Ebbe oder Flut in Eichels Kasse ab. Was wir brauchen, ist ein bedarfsorientiertes Kindergeld und keins nach Kassenlage. Durchschnittlich etwa 750 Mark monatlich kostet ein Kind vom ersten bis zum achtzehnten Lebensjahr. An dieser Marke muss sich ein Kindergeld, das diesen Namen verdient, orientieren. Es muss, ähnlich wie die Rente, dynamisiert werden und mindestens die Teuerungsrate auffangen.

Es ist nach wie vor in den meisten Fällen die Mutter, die ihre Erwerbstätigkeit zumindest zeitweise aufgeben muss, wenn die Familie Zuwachs bekommt. Für das Familienbudget ist das ein kräftiger Aderlass, der durch das - einkommensabhängige - Erziehungsgeld in Höhe von 600 Mark monatlich eher symbolisch ausgeglichen wird. Es muss endlich eine Infrastruktur geschaffen werden, die dem erziehenden Elternteil eine möglichst rasche Rückkehr in den Beruf ermöglicht. Die Ausstattung mit Tagesstätten, Kindergärten und Ganztagsschulen muss endlich auf ein Niveau gebracht werden, das in anderen europäischen Staaten, etwa Großbritannien, Frankreich oder Italien, seit langem selbstverständlich ist.

Die Leistungen für die Familien sind über eine Vielzahl von Gesetzen verstreut, selbst Fachleute tun sich schwer, den Überblick zu behalten. Sinnvoll wäre es, all diese Bestimmungen in einem eigenen Sozialgesetzbuch zusammenzufassen, wie es unlängst mit dem Sozialgesetzbuch IX geschehen ist, das die Rechte behinderter Menschen im gesellschaftlichen Leben festlegt.

Darüber hinaus hätte auch eine durchgreifende Reform der Sozialversicherungen positive familienpolitische Auswirkungen. Vor allem Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung müssten auf eine wesentlich breitere finanzielle Basis gestellt werden. Das heißt: Jegliches Einkommen wird sozialversicherungspflichtig, nicht nur Löhne und Gehälter, sondern auch Kapitaleinkünfte, Mieteinnahmen, Abgeordnetendiäten etc. Die durchschnittlichen Beitragssätze könnten so - bei gleichbleibenden beziehungsweise höheren Leistungen - nachhaltig gesenkt werden. Davon profitieren auch Familien.

Der falsche Weg wäre eine weitere Individualisierung der Lebensrisiken, wie Riesters Rentenreform sie bringen wird. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts fordert sozialen Ausgleich zugunsten der Familien, und der ist nur im Rahmen einer Sozialversicherung möglich.

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