Während der Regionalzug seinen roten Streifen ins Braun der Landschaft malt, sitze ich am Fenster und bestaune die brettflache Ebene des Rheintals. Ich fahre ins Badische, dorthin, wo Deutschland der Schweiz "Guten Nacht" sagt. Ich habe Fragen im Gepäck. Das Theater Freiburg will wissen, ob es sie wirklich gibt - die Renaissance des Glaubens, die zur Zeit ein so beliebtes Thema unter Kulturkritikern und TV-Talkern ist. Rationalität und Pragmatismus sollen dem Menschen über sein, Sinn und Glauben im Aufwind. Was sagen die Menschen in der deutschen Provinz dazu? In der Abgeschiedenheit, in die früher pilgerte, wer Einkehr suchte? Die Zugbremsen quietschen, ich bin am Ziel. Buggingen im Markgräfler Land, ein ehemaliger Bergarbeiterort, eine Handvoll Straßen, ein Neubaugebiet, drei Gaststätten, im Hintergrund ragen die Berge des Schwarzwalds auf.
Kurz nach meiner Ankunft begegne ich dem ersten Experten in Sachen Glauben. Ich treffe ihn vor einer riesigen Halle, die sich auf den zweiten Blick als katholische Kirche entpuppt. Ein schmaler Mann mit ewigem Lächeln begrüßt mich. "Ja, eigentlich war unser Ort zutiefst protestantisch, wir sind ja schließlich in Baden." Es ist der Pfarrer der katholischen Gemeinde, der zu mir spricht. "Dann aber, als man im Jahr 1921 begann, im Bergbau Kalium zu fördern, wurde die Gegend als Ort der Hoffnung bekannt." Hoffnung? Suche? Die Suche gilt dem Geld. Aus den Nachbargemeinden, fährt der Pfarrer fort, aus Oberschlesien und dem Ruhrgebiet, ja, sogar aus Italien seien die Menschen nach Buggingen geströmt, weil es gut bezahlte Arbeit gegeben hat. "Und deswegen haben wir uns hier eine schöne, manche sagen, eine etwas zu großzügige, aber ich sage, eine schöne Kirche errichtet. Für fast 400 Gläubige!" Die Worte des Pfarrers planschen in vergnügtem Alemannisch, einem Dialekt, in dem sich alles geschmeidig fügt, auch das, was anscheinend nicht zusammen gehört. Plötzlich verschieben sich seine Augen zu zwinkernden Schlitzen: "Ja, und aus dem letzten Bohrer des Bergwerks, der in die Erde getrieben wurde, bis vor 35 Jahren die Grube schloss, aus dem haben wir uns ein schönes Ewiges Licht gebaut." Der Bohrer stehe heute zwischen Pieta und der Heiligen Barbara und "leuchtet uns jeden Tag den Weg zu Liebe und Vergebung". Er lacht neckisch, und ich glaube zu spüren, wie die Kirchenfundamente vibrieren. Als die Erschütterung sich legt, landet der lebensfrohe Mann seine eigentlich Pointe: "Verstehen Sie mich nicht falsch, wenn wir Glück haben, kommen 30 oder 40 Leute zum Gottesdienst, in eine Kirche für 400! Auch zu Weihnachten bekommen wir sie nie voll. Aber dann", er japst heiter nach Luft, "haben die Gläubigen wenigstens ihre Pelzmäntel an, so dass es nicht ganz gar so schallt."
Der Pfarrer empfiehlt mir einen Abstecher ins Gewerbegebiet. Wo früher der Fuhrpark der Kaligrube war, steht heute die größte Moschee zwischen Freiburg und Basel. Auf dem Weg komme ich an einem schroffen Felsen vorbei, in seiner Mitte eine rote Tür, der Eingang des Bergwerksmuseums. Allerlei kann man hier über die ehemalige Grube lernen, aber was mich am meisten fasziniert, sind die Fotos aus den Dreißigern und Vierzigern, auf denen Männer auf dem Podium eines bizarren Gay-Clubs tanzen. Denke ich für einen kurzen Moment. Natürlich gehörten die verschwitzten Körper, nur mit Gummistiefeln, Badehose und Helm bekleidet, den Bergmännern. Die "Gesteinswärme" habe diese Hitze produziert, verrät mir der Museumsführer, ein ehemaliger Kumpel in pechschwarzer Gardeuniform mit leuchtend gelbem Federkiel auf der Pagenmütze. In den kilometerlangen Aushöhlungen, die bis zu entlegenen Nachbardörfern reichten, habe stets eine Temperatur von 40 Grad geherrscht. Und die Luft sei so salzig gewesen, dass die wenigen Bergleute, die noch lebten, noch heute so würzig äßen, dass die Frauen separat für sie kochen müssten. Der krumme Finger des ehemaligen Steigers tippt mir auf die Brust. Ob ich schon die alten Männer im Ort gesehen habe, die auch bei eisigstem Wind nur im Hemd durch die Straßen liefen. Ich schüttele den Kopf. Alles Männer, die früher zur Grube gegangen seien. Für den Rest des Lebens habe der Berg sie aufgeheizt.
Schließlich finde ich den Weg zum Gewerbegebiet. Ein alter Mann mit grauem Bart führt mich in den Keller der Moschee, wo ein Herr Kamil auf mich wartet. "Welche Fragen stellst du?" Der Mann, der mir den Weg weist, spricht ein seltsames Deutsch. Die Mischung aus oberrheinischem Singsang und türkischem Stakkato will nur schwer in mein Ohr. "Du weißt, in Holland haben sie diesen Reporter getötet. Er heißt wie der Maler. Van Gogh." Ich versichere, dass ich keine Fragen zur Religion stelle und darf mich dann neben Herrn Kamil setzen, der in meinen Augen dem anderen Mann aufs Haar gleicht. Herr Kamil schaltet die türkischen Nachrichten aus und lächelt mich an. Er beginnt von seiner Arbeit im ehemaligen Kaliwerk zu erzählen, als wäre alles erst gestern gewesen. Daten und Fakten fließen nur so aus ihm heraus: Im September 1972 ist er nach Deutschland gekommen, 26 Jahre alt und direkt von der Schwarzmeerküste; von den 400 Kollegen waren 90 Türken, die meisten vom Schwarzen Meer; sieben Stunden lang war die Schicht, 4,06 DM der Stundenlohn; 1973 ging die Grube Pleite und Herr Kamil zu einer Wasserhahnfabrik. Plötzlich verstummt er und der Mann, der mich in den Keller gebracht hat, er war als Lkw-Fahrer an den Oberrhein geholt worden, zeigt auf meinen Block: "Das musst du wissen, wir waren alle 100 Prozent gesund, als wir nach Deutschland kamen. 100 Prozent gesund!" Ich frage Herrn Kamil, wie er von den Deutschen aufgenommen worden sei, und höre eine einfache Antwort: "Unten war alles gut, unten waren wir Freunde. Oben war es anders. Unten sagte der Meister: Kollege da, Kollege da. Und ich habe gearbeitet. Oben war es anders." Der Mann, der mich in den Keller gebracht hat, redet laut dazwischen: "Hast du aufgeschrieben, was ich gesagt hab´?" Herr Kamil fährt fort in seinem Diktierstil: Ein Arzt aus Deutschland sei gekommen; zwei Wochen lang wurde untersucht; neun Stunden pro Tag; alles sei intensiv geprüft worden, Rücken, Unterleib, Füße, ein Loch im Zahn und der Arzt sagte "Nächste bitte"; nur jeder Zwanzigste bestand. Wer bestand, war glücklich und machte eine große Feier. Plötzlich beginnt der Lkw-Fahrer aus dem Oberrhein mit den Händen zu fuchteln. Wild tippt er auf meinen Block: "Siehst du, wir waren alle gesund. Wir sind nicht gekommen und haben Arbeit weggenommen. Das musst du wissen, wir waren 100 Prozent gesund!"
Wenige Schritte von der Moschee entfernt liegt eine Autowerkstatt, die über einen Internetanschluss verfügen soll. Bereitwillig lässt man mich das Kabel in meinen Laptop stecken. Mehr als beiläufig, so als wäre es mir gerade in den Kopf geflattert, komme ich auf meine Mission zu sprechen. Und erhalte prompt Antwort. "Da obbe is keiner! Da kannst du noch so lange nach obbe schauen. Es gibt nix außer, was man in den Hände´ hält." Mein Blick gleitet unpassender Weise auf das Kalenderblatt an der Wand, das eine sympathisch lächelnde Frau mit nackten Brüsten auf einem magnolienfarbenen Oldtimer zeigt. Der Mann mit den tiefschwarzen Händen grinst, als er meinem Blick folgt: "Ihr Städter, also nix als Flause´ im Kopf." Dem Grinsen folgt ein sachlicher Blick. "Aber im Ernst, was soll´s geben, als was man in den Hände´ hält? Also, da obbe ist zumindest nix. Gar nix ist da." Ich tippe ein wenig auf der Tastatur meines Laptops herum, um zur nächsten Frage auszuholen: "Und was treibt Sie dann voran? Ich meine, sie könnten morgens auch einfach im Bett liegen bleiben." Die Antwort kommt prompt. "Das Schraube´ am Auto. Das macht mir einfach Freud´. Und für das Geld, das ich verdiene, gehe ich dann im Urlaub Motorrad fahre´. Das ist das Schönste für mich." Nickend drücke ich Return und schicke eine Email von der deutschen Peripherie in die weite Welt. "Also, ich weiß ganz bestimmt, da obbe is nix, kein Gott und kein sonst was. Brauche ich auch gar nicht. Denn wenn die Sonne scheint, setze ich mich einfach auf mein Rädle und, zack, bin ich der Glücklichste, wo´s gibt." Der Glücklichste, wo´s gibt, wiederhole ich neidisch in meinem Kopf. Neben dem Bild der barbusigen Sympathieträgerin hängt ein Foto der Gattin, daneben ein Schnappschuss vom Nachwuchs. Ich versuche es ein letztes Mal: "Aber sind wir nicht alle auf der Suche? Sind die Zeiten von purer Rationalität und bloßem Pragmatismus nicht vorbei? Gibt es nicht so etwas wie eine Rache Gottes, eine wieder aufflammende Sehnsucht nach etwas, das uns alle verbindet und dem Leben erst Sinn und Würde verleiht?" Meine Frage lässt den Mann kalt wie eine eingeschneite Bergkuppe im nahen Schwarzwald. Sogar ein Zeichen der Empörung oder ein leichtes Kopfschütteln erscheint ihm zuviel Aufhebens. Statt eine Antwort zu geben, tönt eine fröhliche Melodie von seinen Lippen und er schlendert zurück in seine Werkstatt.
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