Fredi erzählt

Alltag Das Moseltal inspiriert einen Heizungsinstallateur zu morbiden Geschichten

Mit Hunger stand ich im Dorfladen und starrte auf die Auslage. Das Angebot war nicht groß und ich entschied mich für das Puddingteilchen. Doch ich musste mich gedulden. Ich war nicht allein. Vor mir standen zwei Dorfgeister mit zerknitterten Mündern und gestärkten Krägen. Und vor allem war da Fredi, der Heizungsinstallateur des Ortes, der, wie immer, seinen Singsang hören ließ. "Mach´ also die Einkäufe für die Lieben zu Hause, schlendere gemütlich über die Einkaufstraße, plötzlich krabbelt das Täubsche´ vor meine Füße. Macht´nen Ringeltanz, wie hätt´ sie was im Tee. Was macht der Herr neben mir? Der Geselle geht einfach weiter. Die Stadtleut´! Ich schnapp´ mir die Taub´, ratsch, einmal den Kopp rum, ab in den nächsten Kübel. In der Stadt stehen ja an jeder Ecke Kübel. Ist nicht so wie hier, dass man sein Müll in den eigenen Kübel tut. Da stehen an jeder Ecke Kübel, wo die Leute dann ihr Zeugs loswedde". Wie immer sah Fredi blendend aus. Haare in silbernem Schimmer. Der Kopf ein kompakter Quader. Dazu die Augen, zwei anthrazite Leuchten. Und die Lippen. Wie geschnitzt. "Oder letztens. Sitz´ grad in der Kapell´ bei Drillich, da wo sie das Tryptichon im Balthasar Neumann-Stil habbe ..." Fredi brach ab und schickte die Brauen zum Haaransatz. Grund war eine Hupe, die von der Dorfgasse plärrte. Eine angespitzte Stimme schaltete sich dazu und rief seinen Namen. Es war Marlies, seine Frau. Sie kam von einem Ort auf der anderen Seite der Mosel, über die Region hinaus berühmt für das gotische Rathaus und die lokale Pampigkeit, die grenzenlos war. Mit hochrotem Kopf unterm Make-up wartete sie im Auto. Fredi machte die Lippen feucht. "Na, sitze also in der Kapelle und esse meine Stüllsche ...". Wieder plärrte die Hupe, dieses Mal eine Frequenz höher. Fredi kapitulierte, schob eine Handvoll Münzen über den Tresen und verabschiedete sich. Als er an mir vorbei kam, fragte er, ob ich am Nachmittag zu Hause sei. Er müsse etwas vorbei bringen.

Das Teilchen, das ich erstand, war mehr Halsbürste als Backware. Zu Hause angekommen, verschluckte ich mich fast an ihm und beschloss sofort einen Ausflug in die Kreisstadt, zum großen Supermarkt auf zwei Etagen. Als ich aus der Haustür trat, um mich ins Auto zu schwingen, stieß ich allerdings gegen einen harten Sack. Und auf Fredi. Letzterer nickte mir unmissverständlich zu und ich verstand. Zusammen hievten wir den Sack die Treppe zu meiner Wohnung hinauf. Nach drei Stufen benetzte Fredi die Lippen. "Oder letztens. Zuckel´ grad nach Möf hoch und denk´, haste´s auf dem Auge oder hängt da wer im Ahorn? Da baumelt´ ein junger Kerl dran, ganz blau im Gesicht, wie´n schimmliges Äppelsche..." Als der Sack in meiner Küche stand, blickte Fredi auf die Uhr. "A propos Äppelsche. Die Erdäppelsche sind im Übrige vom Pitter. Weißt schon, wo der Filius letztens am Rattengift schnabulierte. Muss jetzt leider los. Bei Nelles muss ich noch den Boiler anschließe´."

Ich öffnete den Sack und briet mir eine Pfanne Bratkartoffeln. Gerade als ich mir mein Mahl servieren wollte, klingelte das Telefon. Die Stimme, die sich meldete, war ungehobelt und weiblich. Zweifelsohne gehörte sie auf die andere Seite des Flusses. "Sag Fredi, wenn du he siehst, he soll nachher beim Felsenkeller vorbeischaue..." Es war Marlies. Ich hatte Glück, denn nur sie konnte ich ohne schlechtes Gewissen abwürgen. Ich entfaltete ein kurzes Schlusswort. Aber Marlies ging dazwischen. "Noch was! Wenn du Fredi siehst, he soll Werner noch die Leiter bringen! Sofort, ja! Noch bevor he zum Felsenkeller fährt!" Während ich weghörte, zog ich die Pfanne mit den Kartoffeln zu mir herüber und fingerte nach dem schönsten Brocken. "Soll Fredi sofort hinfahren! Sag he das!" Die erste Kartoffelecke war verdaut, was meinen Unmut dämpfte. Ich entschied, mich am Gespräch zu beteiligen. "Warum rufst du Fredi nicht einfach auf dem Handy an?" "Fredi kriegst du nicht am Handy. He ist immer ausgeschaltet." Anerkennend nickte ich in die Muschel. War mir auch schon aufgefallen. "Versuch´s schon den ganzen Tag, komm aber einfach nicht durch. He ist immer ausgeschaltet. Hab´s heute bestimmt schon zehnmal versucht. Immer ausgeschaltet." In diesem Moment fiel mir etwas auf: Irgendwie war Marlies´ Stimme heute nicht Marlies´ Stimme. Zwar schleppte sie sich wie immer durch ihren Leierton. Und wie immer war sie dabei nur schwer zu verstehen, weil sie nicht anders konnte, als sich ständig etwas zu Essen in den Mund zu stopfen. Aber hinein mischten sich ungewohnte Klänge, Laute, die ich von ihr bisher nicht kannte. Etwas zwischen Glucksen und Wimmern. Sie weinte. Meine leere Magengrube zog sich zusammen. "Sag Marlies, was isst du eigentlich gerade? Ist das ein Teilchen aus dem Laden? Habe ich mir heute auch gekauft. Ein Puddingteilchen." In der Leitung war Stille. Ich hörte nur ein leises Schluchzen, das ich so schnell wie möglich abstellen wollte. Darum begab ich mich ins Reich der Märchen. "Das Puddingteilchen war wirklich lecker. Ich glaube, ich kaufe mir gleich noch eins." Ein Räuspern ging in ein Schnäuzen über. "Der Laden hat doch längst zu." "Stimmt, Marlies. Weißt du, was ich gerade esse? Bratkartoffeln! Die Kartoffeln sind vom Pitter." Noch zierte sich Marlies und ich redete weiter. "Ohne die Kartoffeln vorzukochen habe ich sie angebraten. Habe die in ganz dünne Scheiben geschnitten. Dann Zwiebeln dazu, Salz und Pfeffer. Wie machst du denn Bratkartoffeln?" "Eigentlich genauso." Ich sagte "aha" und saß in der Klemme. Bis zu diesem Telefonat hatte ich kaum ein Wort mit Marlies gewechselt, geschweige denn ein Gespräch über Essen mit ihr geführt. Bisher war sie mir nur als schlecht gelauntes Anhängsel von Fredi bekannt. Ich wusste nicht weiter. Zum Glück sprang Marlies ein: "Ich mache eigentlich mehr Dippekuche´, nit Bratkartoffeln. Wenn ich mir was Gutes tun will, mach ich Dippekuche´. Oder ich hol mir ein Teilchen im Laden. Na ja, wir sind eben auf dem Land, ist schwer sich was Gutes zu tun. In der Stadt ist das wohl einfacher?" Ich nickte. Dann hörte ich die Frage. "Weißt du, wo he ist?" Ich schwieg. "Weißte also auch nicht. Ich warte nämlich schon den ganzen Tag auf he. Fredi hat gesagt, he wär´ heute bei dir. Sagt he übrigens oft, dass he zu dir fährt." Ich schraubte die Augen in die Höhe. "Tja, ich wohne eben in einem alten Haus, mit einer alten Wasserleitung. Da muss er öfters vorbeikommen. Heute, da hat er mir zum Beispiel Kartoffeln gebracht. Vom Pitter. Weißt ja, wie es ist. Wir trinken dann noch ein Möselchen und quatschen. Besser gesagt, Fredi erzählt." "Und was erzählt he dann?" "Von dem, was er halt so erlebt." "Und bei wem he so war?" "Das auch." "Ja, und was erzählt he dann?" "Na, was er so erzählt." "Zum Beispiel?" Was wollte Marlies hören? Ich sah nur einen Weg. Ich musste die Wahrheit sagen. Aber wie hieß sie? Wovon erzählte Fredi? "Marlies, das klingt vielleicht komisch, aber Fredi erzählt meistens von Dingen, die anderen erstmal nicht so auffallen würden." "Ja, und was erzählt he dann?" Ich seufzte in die Muschel. "Na, mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass die meisten Geschichten... Wie soll ich sagen? Also die meisten Geschichten haben etwas - etwas Morbides. Alle handeln irgendwie vom Tod. Also von irgendwelchen Leichen, die am Straßenrand hängen. Oder irgendwelchen Todesfällen in den Dörfern, wo er war." Zu meiner Überraschung blieb Marlies gelassen. Ich konnte hören, wie sie in aller Ruhe an einem Keks oder ähnlichem knabberte: "Vom Tod also."

Vor mir stand eine große Pfanne Bratkartoffeln, von denen sich köstlich duftende Dampfkringel in die Höhe lösten. Nur zu gerne hätte ich das, was vor mir stand, auf der Stelle verschlungen. Aber stattdessen musste ich einer Bewohnerin des Flusstales erklären, warum man hier vornehmlich von Vergangenem, Verflossenem und Gewesenem sprach. Wieder entschied ich mich für die Wahrheit. "Vielleicht liegt es daran, dass Fredi sein gesamtes Leben im Moseltal verbracht hat, eingeklemmt in einen Trichter mit steilen Hängen, an einem Ort, an dem niemand weiter blickt als an das andere Ufer mit seinen Trompetenblütlern und Brennesselhalden, an dem sich, seit die Römer durchmarschiert sind, nichts getan hat, und man damals wie heute auf einen Fluss starrt, der sich als braune Scheibe an einem vorbeischiebt, im Schrittempo und immer darauf bedacht, die Bewohner des Tals nicht zu verschrecken." Nun war es draußen. Gespannt wartete ich auf Marlies´ Reaktion. Würde sie verstehen, worauf ich hinaus wollte? Oder kann man dieses vielleicht nur als Hinzugezogener begreifen, dieses Gefühl von Leere und Stillstand? Oder würde sie mich einen Spinner schelten, mich zu einem machen, der Bücher wälzte und dabei die Realität aus den Augen verloren hatte? Wieder überraschte mich ihre Antwort. Sie hatte mir nämlich gar nicht zugehört. Stattdessen war sie beim vorherigen Gedanken stehen geblieben. "He redet also über den Tod? Nicht über irgendwelche andere Leute, die he besucht? Irgendwelche Frauen oder so?" Ich starrte auf die Kartoffeln und suchte nach den Dampfkringeln, die eben noch so köstlich in die Höhe stiegen. Aber kalt lag mein Essen in der Pfanne. Marlies wiederholte ihre Frage. "Fredi erzählt also nicht ab und zu mal von Frauen, bei denen he den Wasserhahn schraubt?" Zwar hatte Fredi leuchtende Augen und auf den Mund gefallen war er bewiesener Maßen auch nicht. Sehr gut konnte ich mir vorstellen, wie erfreut die eine oder andere Dame der Mosel war, wenn er in seinem verschmierten Montageanzug in ihren Flur trat. Aber einen Hinweis darauf, dass er mehr tat, als Heizungen und Wasserhähne zu reparieren, hatte ich bisher nicht bekommen. Und Fredi gehörte nicht zu den Geheimniskrämern. Während ich die Kartoffeln in den Mülleimer kippte, versicherte ich Marlies, dass ich aus Fredis Mund noch nie etwas von einer anderen Frau gehört hatte. Ein langes Schweigen folgte. Allerdings ohne den Unterton von weinerlichem Schmatzen. Und plötzlich, mit einem Mal verabschiedete sich Marlies. Ihre Stimme war nun geschmeidig, ja schwungvoll. Sie trällerte fast ins Telefon. "Danke dir für deine Hilfe und wenn du he doch noch siehst, sag he bitte das mit dem Felsenkeller, und dass he zu Werner soll, wegen der Leiter." Klack, und sie legte auf. Ich betrachtete die Kartoffeln, wie sie sich im Eimer krümmten, und lauschte meinem Magen. Er knurrte.

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