Besserwisser und Alleskönner

PISA-Studie Ein allererster Kommentar zu ihrer Rezeption in den Medien und zur Relativierung von "Folgerungen"

Drei Tage, nachdem die Kurzfassung der PISA-Studie veröffentlicht worden war, häuften sich auf meinem Schreibtisch die Kommentare. Nicht nur wussten alle, welche Ergebnisse PISA gehabt hat, sie wussten auch, was diese Ergebnisse bedeuten und wie sie zu erklären sind. Und sie haben schon die Rezepte parat, was zu tun ist: von der Verkürzung des Gymnasiums auf acht Jahre (Ministerpräsident Clement) über die Forderung, das Lernen und die Schule ganz neu zu erfinden (Die Woche) beziehungsweise eine andere Lernkultur zu entwickeln (taz), bis hin zur Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems (Frankfurter Rundschau), zum Ausbau der Gesamtschule (Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule), zur Umverteilung der Bildungsfinanzen in den Vor- und Grundschulbereich (Der Tagesspiegel), zur Autonomisierung der Schule generell (Die Welt) und zur Mahnung, Eltern müssten sich wieder mehr um ihre Kinder kümmern (Süddeutsche Zeitung).

Am nüchternsten berichtete noch die BILD-Zeitung, die sich auf eine stichwortartige Zusammenfassung der wichtigsten Befunde beschränkte (wenn auch unter der Schlagzeile "Schockierende Ergebnisse! Werden wir ein Volk von Dummköpfen?") und den Leiter der internationalen Studie, Andreas Schleicher, mit dem vorsichtigen persönlichen Statement zitierte: "Gründe gibt es viele. Länder mit Spitzenergebnissen, also zum Beispiel Schweden und Großbritannien, haben Ganztagsbetreuung und eine bessere Vorschulbildung als wir. Das macht sehr viel aus. Für schlecht halte ich, dass Kinder sich bei uns schon nach der Grundschule entscheiden müssen, auf welche Schule sie gehen."

Die GEW legte bereits zwei Tage vor der offiziellen Veröffentlichung der Ergebnisse erste Vorschläge auf den Tisch, und die Kulturministerkonferenz hat sich am Tag der Veröffentlichung mit den Lehrerverbänden auf "Konsequenzen aus der PISA-Studie" geeinigt. Innerhalb von drei Tagen versandte sie vier Presseerklärungen beziehungsweise -unterlagen, in denen in verschiedener Gliederung jeweils verschiedene "Maßnahmen" als Konsequenz aus PISA verkündet wurden.

Ein Schnellschuss nach dem andern. Aber aus ganz verschiedenen Richtungen. Vieles, was geschrieben wird, ist plausibel, Einiges je nach Beobachter-Standort sogar sympathisch. Aber lassen sich die Diagnosen und die vorgeschlagenen Therapien aus den Befunden von PISA ableiten?

Ich habe den Eindruck, hier wird aus der Schublade geholt, was man schon immer sagen wollte (und zum Teil schon mehrfach gesagt hat). Alle hoffen auf mehr Aufmerksamkeit für ihre alten Ideen, weil die Öffentlichkeit alarmiert ist. Und das zu einem Zeitpunkt, da weder der vollständige Bericht vorliegt noch forschungsmethodische Fragen der Erhebung und der Auswertung diskutiert werden können.

In den angebotenen Patentrezepten offenbart sich ein mechanistisches Verständnis sozialer, insbesondere pädagogischer Prozesse: Man sieht ein Problem, führt dieses auf eine einzelne Bedingung zurück, sucht sie in nur einer Richtung zu verändern und erwartet, dass das Problem daraufhin verschwindet.

Worum geht es genau? Ich beziehe mich auf die im Netz verfügbare 50-Seiten-Kurzfassung des deutschen PISA-Berichts. Ich konzentriere mich auf die Befunde zum Lesen, da die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften bei diesem Durchgang weniger differenziert erhoben wurden und da sich die Ergebnisse nicht wesentlich von den TIMSS-Daten unterscheiden.

Insgesamt erreicht Deutschland im Lesen mit 484 Punkten unter 32 Nationen nur Platz 22. Das sind 16 Punkte unter dem OECD-Mittelwert von 500 (Finnland liegt mit 546 Punkten auf Platz 1, Brasilien mit 396 Punkten auf Platz 32). Schwächen zeigen sich insbesondere bei anspruchsvolleren Aufgaben, die ein inhaltliches Verständnis von Sachverhalten verlangen und nicht durch die Reproduktion von angelerntem Wissen gelöst werden können.

Mit fast zehn Prozent überdurchschnittlich stark ausgeprägt ist in Deutschland die Teilgruppe der SchülerInnen unterhalb der niedrigsten Lesestufe (OECD-Durchschnitt sechs Prozent). Weitere 13 Prozent befinden sich auf Kompetenzstufe 1. Das heißt: Knapp ein Viertel der SchülerInnen kann am Ende der achten Klasse nur mit Mühe lesen oder versteht Texte nur auf einem elementaren Niveau.

In Deutschland ist der Abstand zwischen den schwächsten fünf Prozent und den fünf Prozent stärksten LeserInnen größer als in allen anderen Ländern. Dennoch gehören auch zur Spitzengruppe in Deutschland nur neun Prozent der SchülerInnen gegenüber 15 Prozent und mehr in mehreren anderen Ländern (OECD-Durchschnitt neun bis zehn Prozent). 15-jährige SchülerInnen, die nicht gern lesen, sind in Deutschland (und Österreich) mit 42 Prozent besonders häufig (gegenüber zum Beispiel 30 Prozent in Frankreich und 23 Prozent in Finnland).

Bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und vergleichbarer sozialer Herkunft zeigen SchülerInnen, die das Gymnasium besuchen, deutlich bessere Leistungen als diejenigen in der Hauptschule.

Die Leistungsunterschiede sind in keinem anderen Land so stark durch die soziale Herkunft bedingt wie in Deutschland: Die Differenz zwischen SchülerInnen aus der oberen und der unteren Sozialschicht liegt bei 111 Punkten - in Korea, Finnland und Japan nur bei 25 bis 50 Punkten. Dies erklärt sich daraus, dass in anderen Ländern die Schule soziale Benachteiligung wesentlich stärker ausgleicht als bei uns: Bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und vergleichbarer sozialer Herkunft zeigen SchülerInnen, die das Gymnasium besuchen, deutlich bessere Leistungen als diejenigen in der Hauptschule.

Migrantenkinder schneiden schlechter ab als Muttersprachler. Diese Differenz findet sich in allen Ländern, ist aber in Deutschland besonders hoch ausgeprägt. Es ist dabei zu bedenken, dass Migration und niedriger sozialer Status sich stark überlappen, so dass beide Faktoren für die Erklärung unterdurchschnittlicher Leistungen herangezogen werden können.

Von den 15-Jährigen haben in Deutschland fast 16 Prozent nur die achte Klasse erreicht, während es im OECD-Durchschnitt fünf bis sechs Prozent sind. Unter deutschen SchülerInnen ist der Anteil derjenigen, die am Schulanfang zurückgestellt und/oder während der Schulzeit nicht altersgemäß versetzt worden sind, mit 36 Prozent überdurchschnittlich hoch. Diese SchülerInnen erreichen auch in den (jetzt) niedrigen Klassen keine durchschnittlichen Leistungen.

Rückfragen zu den empirischen Daten und ihrer Deutung

Wie passen die schlechten Ergebnisse dazu, dass deutsche Dritt- und AchtklässlerInnen 1991 in der Internationalen Lesestudie (IEA) noch im Mittelfeld gelandet sind? Dies gilt insbesondere für den in PISA als hoch erkannten Anteil leseschwacher SchülerInnen, wo doch selbst noch 1994 deutsche 16- bis 25-Jährige im Vergleich zu anderen Ländern eine besonders geringe Quote leseschwacher SchülerInnen aufwiesen. Kann sich der alltägliche Unterricht in einem Schulsystem so schnell ändern?

Warum lagen 16- bis 25-jährige Deutsche 1994 mit kanadischen Jugendlichen in etwa gleich auf und deutlich vor denen aus den USA, während 15-jährige Kanadier in PISA nur sechs Jahre später mit 534 Punkten (Platz 2) fast uneinholbar weit vor den deutschen SchülerInnen (484 Punkte) lagen und diese auch deutlich hinter den Jugendlichen aus den USA mit 504 Punkten (Platz 15) zurückbleiben? Diese Länder sind auch selber erstaunlichen Verschiebungen unterworfen: so lag Schweden 1994 deutlich vor, 2000 deutlich hinter Kandada.

Auch für die Neunjährigen von 1991 (das wären die 15-Jährigen von 1997) und für die 1991 14-Jährigen zeigte sich in der IEA-Studie ein anderes Bild als in PISA: Deutschland und Kanada fast punktgleich, Schweden beiden weit voraus. Man könnte einwenden, dass die SchülerInnen der kanadischen Stichprobe damals etwas jünger waren als die deutschen und die schwedischen SchülerInnen. Aber auch ein Land wie Irland, dessen Achtklässler 1991 gleich alt waren, liegt 1991 hinter Deutschland und 2000 weit voraus. Die 14-Jährigen in Ungarn dagegen liegen 1991 deutlich vor ihren deutschen Altersgenossen, die 15-Jährigen im Jahre 2000 deutlich hinter diesen.

Wer die Trägheit des Bildungssystems kennt, weiß, dass sich Unterricht und seine Wirkungen so kurzfristig nicht so dramatisch verändern können. Leider. Denn auch die vorgeschlagenen Reformkonzepte werden ihre Wirkung nur langsam und nur punktuell entfalten. Wie alle Bildungsreformen bisher. Wer Anderes verspricht, hat nicht zur Kenntnis genommen, was 30 Jahre Innovationsforschung an ernüchternden Einsichten in die Schwerfälligkeit institutionellen Lernens erbracht haben.

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In den zitierten Befunden zeigen sich also Ungereimtheiten, die aufzuklären sind, ehe man Urteile über den relativen Leistungsstand fällt und Schlüsse über deren Ursachen zieht. Das gilt auch für manche Erklärungsversuche, die auf zusätzliche Annahmen zurückgreifen, ohne diese als solche auszuweisen. Nur ein Beispiel: Es wird behauptet, das in fast allen Ländern übliche integrative Bildungssystem, in dem die Grundschüler bis zur 6. oder sogar 10. Klasse zusammen bleiben, sei besser als das deutsche System, das früher selegiert. Außer Deutschland und einigen Schweizer Kantonen trennt nur noch Österreich die SchülerInnen nach der vierten Klasse.

Aber warum schneiden die österreichischen SchülerInnen (Platz 9, 507 Punkte) deutlich besser ab als die deutschen (Platz 21, 487 Punkte) und warum ein integratives Bildungssystem wie Italien (Platz 21, 487 Punkte) nicht besser? Und warum schneiden innerhalb von Deutschland die Gesamtschulen schlechter ab als das dreigliedrige Schulsystem - Gesamtschulen mit einem expliziten Reformkonzept aber deutlich besser? Die Schulstruktur allein kann also nicht ausschlaggebend sein.

Zum Schluss eine spezifische Mahnung zur Vorsicht. Es stimmt besorgt, wie viele SchülerInnen nur auf einem elementaren Niveau lesen. Aus diesem Befund abzuleiten, dass der Unterricht für alle SchülerInnen geändert werden müsse, wäre ein Fehlschluss. Niemand würde der ganzen Bevölkerung eine Diät oder ein Medikament verordnen, nur weil eine Teilgruppe nicht gesund ist. Außerdem ist PISA eine Punkterhebung. Aussagen über Veränderungen ("Leistungsverfall!") erlaubt sie nicht.

Professor Brügelmann lehrt an der Universität / Gesamthochschule Siegen. Der Text ist eine Vorarbeit für einen Beitrag in der Zeitschrift Pädagogik (März 2002, zusammen mit Hans Werner Heymann), der geschrieben werden kann, sobald der ausführliche PISA-Bericht verfügbar ist.

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