Auf Sie wartet ein Berg von 15 Fragen", begrüßt der Moderator den nervösen Rater. Es geht wieder mal um viel Geld in der schönen RTL-Sendung "Wer wird Millionär?", mehrmals wöchentlich zur Prime Time. Bevor der Kandidat den Stuhl erobert, muss er sich noch mit neun anderen Adepten auseinandersetzen. Aber es ist geschafft, er hat am schnellsten gewusst, in welcher Reihenfolge irgendwelche Inseln von Nord nach Süd zu ordnen sind oder ob der Mensch mehr Rippen als Finger hat. Wer den Stuhl erklommen hat, schwitzt vor Nervosität. Wie beim Windhundrennen sieht er das Karnickelfell vor sich und hastet los auf die Million. Und wie die Windhunde nicht das Fell, wird auch er sie nicht erreichen. Ein dramatischer musikalischer Einstieg, dann ein jammernder, klagender, elektronischer Singsang, der Moderator fängt bei hundert Mark an. Wer nach fünf Runden die 1.000 Mark erreicht hat, darf sie behalten. Von da an geht es langsamer. RTL-Moderator Günter Jauch wird schließlich dafür bezahlt, dass die Bergsteiger den Millionengipfel nicht erreichen. Sie dürfen dreimal Hilfe bekommen, durch eine Frage ans Publikum, durch einen sogenannten fifty-fifty-Joker, der von vier möglichen Antworten zwei aussortiert, oder durch einen Anruf bei einer Person des Vertrauens. Viele wenden sich an Jauch, wenn sie unschlüssig sind. Der sitzt da wie ein Orakel. Aber das Orakel spricht: Ich helfe dir nicht, auch wenn es vielleicht so aussieht. Manche Kandidaten versuchen, den ehemaligen Sportreporter in ein Gespräch zu verwickeln, um vielleicht einen Hinweis zu erhalten. Vergebliche Liebesmüh. Viele von den Glücksrittern schütten Jauch erstmal ihr Herz aus, warum sie beispielsweise keine Kinder haben, was sie mit dem Geld machen werden, das sie noch gar nicht besitzen. Einer will mit seiner Mutter nach Zermatt verreisen, sich außerdem einen Porsche kaufen. Er steigt bei 16.000 Mark aus. Für die Mutter wird es reichen. Ein biederer Mensch aus dem Ruhrgebiet hat sich bis auf 125.000 Mark vorgearbeitet, jetzt soll er sagen, ob die DDR-Hymne von Hanns Eisler, Ernst Thälmann, Arnold Schönberg oder Modest Mussorgski komponiert wurde. Er ruft seinen Vater an. Der wird vom Moderator gefragt, ob er denn Beziehungen hatte in Richtung Osten. Ja, man sei schon früher hingefahren, sei auch schon jetzt da gewesen. Er tippt auf Eisler. Richtig. Die DDR ist fern in dieser Sendung, damals wie heute, wir dagegen erfahren, wie viele kleine und große Orte es in der einstigen BRD gibt, von Köln bis Sickte. Man stelle sich vor, es säßen in der Sendung nur Leute von Frankfurt/Oder bis Meiningen. Unvorstellbare Phantasie. Sind die Landsleute aus dem Westen vielleicht geldgieriger? Sind die Ostler bescheidener oder einfach zu blöd fürs Raten? Einmal sitzt einer aus Genshagener Heide bei Berlin auf dem Stuhl. Er weiß nicht, was ein Muff ist, und geht mit Null Mark nach Hause. Statt seiner gewinnen Zahnärzte, Studenten, selbstständige Steuerberaterinnen. Dafür schauen die Ostler laut Statistik mehr Privatfernsehen, also auch RTL. Es erinnert ein bisschen an Erich Kästners schöne Geschichte aus seinem Kriegstagebuch notabene 45. "Deutschland und England haben beschlossen, künftig gemeinsam zu kämpfen. Deutschland stellt den Luftraum und England die Flugzeuge." Aber was solls, die Leute sehen die Sendung gern, lassen sich von Günter Jauch quälen, bis sie vielleicht 125.000 Mark gewinnen oder im äußersten Fall eine halbe Million.
Die Sendung ist jedoch harmlos im Vergleich zu einer ähnlich gelagerten auf Sat.1. Dort müssen Leute, selbstverständlich wieder aus Köln, Wuppertal, Oberhausen, Köln, Wuppertal et cetera, nicht nur alles mögliche raten, sondern sie müssen, falls sie die Antwort wissen, jemanden aus ihrem sechsköpfigen Rateteam rausschmeißen. Sie müssen gemein sein, um selbst weiterzukommen. Eine lächelnd vorgenommene und lächelnd ertragene Selektion. Deutsche Leitkultur. Erinnert sich noch jemand an Spiele im Fernsehen, als neben Geschicklichkeit Solidarität gefragt war? Tempi passati. Heute lautet die Devise: Es reicht nicht für alle. Und wir lernen schon immer mal, wie man jemanden rausschmeißt, um selber drin zu bleiben. Sehr unterhaltsam, sehr viel lehrreicher als zu erfahren, ob Quagga ein Zebra ist. Rateshow, Big-Brother-Container oder Stellenabbau im Betrieb. Es will alles geübt sein. Wir lernen spielend jenen Killerinstinkt, den wir vielleicht, falls wir ihn nicht schon haben, einmal brauchen werden. "Wenn man den Führerschein hat, beginnt das richtige Leben", meint Frau Leckebusch aus Wuppertal, bevor sie bei 16.000 Mark rausfliegt, weil sie einen frauenfeindlichen Spruch Friedrich Merz zugeordnet hat, statt dem Sportreporter Waldi Hartmann. Das Boot ist voll. Im Fernsehen wie im Leben.
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