Anspruch und Wirklichkeit: Die Landestheater als kulturelle Grundversorger
Peripherie Belächelt und unterfinanziert: Landestheater bieten Kultur für Gegenden, wo sonst wenig ist. Doch das muss nicht provinziell sein – gegen alle Widerstände stemmen sie Uraufführungen prämierter Stücke
Grete Samsa (Nelly Politt) in „Die Verwandlung@Whiteboxx“ nach Franz Kafka am Rheinischen Landestheater Neuss
Foto: Marco Piecuch
Fünf Gestalten in ölverschmierten Kitteln verkörpern die Natur und geben Fischen, dem Meer oder dem Dinosaurier eine Stimme. Unversehens formieren sie sich zur „schwarzen Einheit“, vulgo Öl. Sie lugen freundlich-böse durch einen goldenen Vorhang auf ein goldglitzerndes Erzähler*innentrio und ein buntes desinteressiertes Strandurlauber-Quintett herab – und die gesamte Welt scheint, wie es die Figuren selbst sagen, nun in Schwarz getaucht. Der fossile Energieträger Öl fungiert in Amir Gudarzis preisgekröntem Stück Wonderwomb als Symbol für Ausbeutung und Umweltzerstörung.
So hochkomplex der Text sein mag, Eva Lange hat für die Uraufführung am Hessischen Landestheater Marburg (HLT) eine strukturierte und un
trukturierte und unterhaltsame Form gefunden. Eine Uraufführung an einem Landestheater? Eines Stücks, das den Kleist-Förderpreis für junge Dramatik erhalten hat? Diese Reaktionen sind die Regie führenden Intendantinnen Eva Lange und Carola Unser-Leichtweiß gewohnt. Doch die beiden haben nicht nur Lektorinnen und Autorinnen längst von ihren Regiehandschriften überzeugt. „Es gibt“, so Eva Lange, „große Verlage, die uns auch Uraufführungen anbieten, und wir haben auch schon Stück-Aufträge erteilt.“ Alltäglich ist das nicht, und es widerspricht dem Klischee, das die Landestheater als Kunstdiscounter für die kulturell zurückgebliebene Provinz klassifiziert.Der Stadt-Land-Gegensatz ist letztlich uralt und wird derzeit noch durch den Schwund an Daseinsvorsorge, etwa bezogen auf Arztpraxen und Kinderbetreuungsangebote, in Gebieten außerhalb urbaner Räume verstärkt. Befeuert wird der Konflikt überdies noch durch Rechtspopulisten, die die Unterschiede für ihre Zwecke instrumentalisieren. Das Thema erregt somit die Gemüter.Schlechte AusstattungLandestheater waren indessen schon immer Akteure in diesem schwierigen Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie. Ihr Auftrag sei, so Intendantin Eva Lange, „Theater in die Fläche zu bringen und so Menschen Zugang zu Kultur zu verschaffen, auch jenseits der größeren Städte“. Es geht also um die theatrale Grundversorgung ländlicher Gebiete, worin die Gefahr eines Bildungsdünkels, den man den Theatermacher*innen vorwerfen könnte, immer mitschwingt.Doch die Landesbühnen sind im Theatersystem zunächst einmal selbst die kulturellen Underdogs. Allen vollmundigen Bekundungen der Träger – in der Regel Bundesland und die Kommune – zum Trotz, bleibt die Anerkennung gering. „Warum sind Landestheater oft so unfassbar schlecht ausgestattet und von der Zuwendung her nicht ganz oben im Feld?“, fragt Carola Unser-Leichtweiß.Marburg als einziges Landestheater in Hessen verfügt über einen Etat von gerade einmal 4,5 Millionen Euro (das Hessische Staatstheater Wiesbaden verfügt zum Vergleich über ungefähr 40 Millionen Euro Etat) und spielt damit circa 250 Vorstellungen pro Spielzeit. 110 davon sind Gastspiele an anderen Orten, deren Anzahl von den Trägern vorgegeben wird. „Vierzig Prozent unserer Spielorte“, erzählt Carola Unser-Leichtweiß, „gab es schon vor unserer Intendanz, den Rest haben wir neu akquiriert.“ Fulda und Rüsselsheim beispielsweise seien Stammgäste, Siegen, Kirchheim oder Neustadt habe man neu dazugewonnen. „Es geht auch einfach ums Geldverdienen an der Stelle.“Knappe Finanzmittel übersetzen sich konkret in kleine künstlerische und technische Ensembles. Zwar kann das Rheinische Landestheater Neuss (RLT) zwei Gastspielproduktionen gleichzeitig auf Reisen schicken, in der Coronazeit hatte der knappe Etat allerdings kuriose Folgen, wie Intendantin Caroline Stolz erläutert: „Wir hatten nicht das Geld, um die ganzen PCR-Tests von externen Fachkräften durchführen zu lassen. Deshalb haben wir uns schulen lassen und alles selbst gemacht, einschließlich der Laborfahrten.“ Die Intendantin als Arzthelferin.Paria des StadttheatersystemsDie schlechte finanzielle Ausstattung findet ihr Pendant in der fehlenden Aufmerksamkeit im Theaterbetrieb: In 60 Jahren wurde kein einziges Landestheater jemals zum Berliner Theatertreffen in die Hauptstadt eingeladen – freie Theater dagegen zuletzt schon. Die Landesbühne, so könnte man zugespitzt formulieren, ist der Paria des Stadttheatersystems.Wer am Landestheater anheuert, weiß also, dass das kein Engagement in der theatralen Komfortzone wird. Mechthild Grabner, Mitglied im Marburger Ensemble, ist ein Landesbühnen-Profi. Zwar bedauert sie, dass die Busfahrten zu Gastspielorten letztlich auf Kosten der Proben gehen. Andererseits sei es „total interessant, an den jeweiligen Abstecher-Orten das Publikum kennenzulernen“. Vor allem aber schätzt sie die völlig unterschiedlichen Herausforderungen an den Gastbühnen: „Das schafft eine Flexibilität, die meiner Meinung nach für den Beruf total gut ist.“ Lange Busfahrten, zugige Stadthallen, kalte Garderoben – Landestheater sind nichts für Diven.Doch die Landesbühnen sind keineswegs mit der Provinz gleichzusetzen, die sie im Namen tragen. Neben den Gastspielen, so die Neusser Intendantin Caroline Stolz, fungiere das RLT eben auch „als Stadttheater vor Ort. Wir müssen also hier den Publikumsgeschmack treffen, aber eben auch darüber hinaus.“ Die Stadt-Land-Spannung vervielfältigt sich. Die Landesbühnen sind selbst Stadttheater im Verhältnis zu ihren Gastspielorten. Ästhetisch hat das zunächst ganz praktische Folgen.David Kreuzberg, technischer Direktor des RLT erzählt, dass er gelegentlich „Träume zerstören“ müsse. Konkret: „Wir müssen die Bühnenbilder sowohl auf größeren als auch auf kleineren Bühnen umsetzen können“. Viele Gastspielorte verfügten zudem weder über Schnürboden noch Untermaschinerie. Was das bedeutet, lässt sich an Caroline Stolz’ Hamlet-Inszenierung ablesen. Auf der Bühne des RLT steht ein gewaltiger goldener Bilderrahmen. Hier versammeln sich Hamlet und seine dysfunktionale Familie wie für ein Foto. Während der Vorstellung senken sich zahlreiche weitere Bilderrahmen aus dem Schnürboden herab. Sein und Schein, Realität und Abbild – das ist die Grundmetapher der Inszenierung, deren Bühnenbildlösung erst entstanden sei, so die Intendantin, als die Gastspielorte (eben mit entsprechender Ausstattung) feststanden.Gastspielauswahl als BasisdemokratieBereitschaft zum technischen Kompromiss ja, aber nicht bei der künstlerischen Idee, das betonen alle drei Intendantinnen: „Von unserem inhaltlich-ästhetischen Anspruch machen wir keine Abstriche“, sagt Eva Lange selbstbewusst. Und Caroline Stolz: Man müsse sich „künstlerisch treu bleiben“, auch wenn man versuche, Publikumswünsche und -geschmäcker abzudecken. Das allerdings heißt für die Landesbühnen in Marburg und Neuss, Klassiker, musikalische Produktionen, Komödien, Gegenwartsstücke oder Familienstücke ins Programm zu nehmen. Die Alleinstellungsmerkmale sind dann in Marburg die zahlreichen Ur- und Erstaufführungen, in Neuss Produktionen ohne Sprache oder auch die unter dem Label „White Box“ firmierenden Klassiker-Light-Versionen.Es bleibt somit eine Ambivalenz: In der Betonung ästhetischer Kompromisslosigkeit zeigen sich in Marburg wie in Neuss einerseits die Spuren der romantischen Genieästhetik, die es als Zumutung empfindet, sich dem Publikumsgeschmack anzupassen. Andererseits stellen sich die Landesbühnen mit ihren Spielplänen einem Wettbewerb um die Zuschauergunst, von dem Stadt- und Staatstheater nicht einmal zu albträumen wagen.Wie sehen das die Gastspielorte? Radevormwald, 22.000 Einwohner, ist Mitglied des Trägervereins des RLT. Die Stadt hat die Organisation des Theaterprogramms an den Kulturkreis Radevormwald e. V. ausgelagert. Vereinsvorstand Michael Teckentrup stimmt sich nicht nur mit dem RLT ab, „was gut gelaufen ist“. Das Landestheater stelle alljährlich sein kommendes Programm vor, „dann lassen wir unsere Zuschauer entscheiden“, so Teckentrup. Gastspielauswahl als Basisdemokratie. Es gebe Interesse an aktualisierten Klassikern, an Komödien, an Kriminalstücken, aber auch an Zeitgenössischem. Er erwähnt Juli Zehs Corpus Delicti oder Wir haben Worte, ein Stück über den Anschlag auf das Bataclan-Theater 2015. „Da sind viele Zuschauer nach der Veranstaltung im Saal geblieben und haben darüber diskutiert. Das war bemerkenswert“, erzählt Teckentrup.Ästhetische Einwände habe sein Publikum nur gegen die inzwischen abgeflaute Kotz- und Nacktheits-Mode erhoben: „Das sind Sachen, die kommen in der Provinz nicht so gut an“. Auch nicht unbedingt in der Stadt, muss man ergänzen.Landesbühnen sind der Lackmustest, der die Inkongruenzen und Widersprüche des deutschen Stadttheatersystems selbst zum Vorschein bringt.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.