"Das kannst du vergessen. Vergessen" "Was soll das heißen?" "Was das heißen soll?" "Ja" "Das ist doch wohl völlig klar: das heißt, dass du ..." - die Sätze zischen durch den Raum wie Peitschenhiebe. Anna Staab und Matthias Eberle proben eine Szene aus Roland Schimmelpfennigs Push up. Doch die beiden Schauspielschüler der Essener Folkwang Hochschule sind unzufrieden: seit Tagen arbeiten sie alleine an der Szene, aber die emotionale Palette will nicht farbiger werden. Dass Anna Staab und Matthias Eberle eine Dialogszene ohne Lehrer erarbeiten, ist nichts Außergewöhnliches. In Zukunft soll dies sogar weit stärker die Essener Schauspielausbildung bestimmen als bisher.
Seit 2001 arbeitet die Folkwang Hochschule an einem neuen Ausbildungskonzept. Der Anlass für die Reform liegt zum einen in der Vereinheitlichung der europäischen Hochschul-Ausbildung, die unter dem Stichwort "Bologna-Prozess" firmiert. Dahinter verbirgt sich kurz gefasst: die Einführung einer Bachelor/Master-Studienstruktur, Mobilität der Studierenden, Einführung eines gemeinsamen Punktesystems, Vergleichbarkeit der Abschlüsse, Beteiligung der Studierenden und Europäisierung des Hochschulbereichs. Zum Zweiten hat man die anstehende Fusion mit der Bochumer Schauspielschule und die veränderte Marktsituation für Schauspieler als Chance begriffen, so Dekanin Marina Busse, "die Ausbildung grundsätzlich zu hinterfragen".
"Marktsituation" meint dabei vor allem die sich auflösenden Ensembles. Hanns-Dietrich Schmidt, Professor für Dramaturgie und praktische Theaterarbeit: "Es gibt immer weniger Anfängerstellen für Schauspielabgänger, aber immer mehr Möglichkeiten zu gastieren." Abgänger müssten sich deshalb viel flexibler und selbstbewusster in Zwischenbereichen bewegen, in denen sie Stücke oder spartenübergreifende Projekte entwickeln, anschließend arbeitslos seien, dann wieder in Filmen mitwirkten. Die Konsequenz daraus ist, so Schmidt, "dass wir die Eigeninitiative, das Selbstbewusstsein und die Eigenarbeit des Schauspielers stärker fördern wollen".
Ein verbindlicher Lehrplan wird erst 2008 fertig sein. Doch klar ist, dass die vierjährige Ausbildung erhalten bleibt, der Fokus auf der klassischen Rollenausbildung allerdings schwächer wird. Studenten der Ausbildungsgänge Schauspieler, Mime/Körpertheater, Regie und des neuen Fachs "Theater machen" absolvieren zunächst eine einjährige gemeinsame Grundausbildung, bevor man sich dann stärker auf die facheigenen Inhalte und schließlich die Arbeit in Produktionen konzentriert. Wichtig ist die Durchlässigkeit der Studiengänge und die Erhöhung der Zahl an freiwilligen Kursen für die Studenten.
Stolz ist man besonders auf das neue Fach "Theater machen", das in Kooperation mit Performern wie der britischen Gruppe Forced Entertainment entwickelt wurde. "Das zielt", so Hanns-Dietrich Schmidt, "auf einen selbständigen Autor-Produzenten, also jemand, der im Bereich Performance arbeiten kann, der seine eigenen Stücke schreibt, der aber auch weiß, wie er Sponsorenmittel von welchen Leuten bekommt". Ein Trend zu Unternehmertum und Selbständigkeit, der aber auch noch auf anderer Ebene greift.
"Wir müssen die Schüler viel mehr fordern, selbst Entscheidungen zu treffen", sagt Dekanin Marina Busse und weiß, dass sie damit den Finger auf zwei Wunden zugleich legt. Da sind einmal die Bildungsdefizite vieler Schüler, die die Dekanin schon mal ihre Studenten ins Museum schleppen lässt. Das andere Problem ist gravierender: Es gibt nicht genug Studenten mit Biss und Durchsetzungskraft. Marina Busse macht dafür die behütete Erziehung durch die 68er-Eltern verantwortlich. Was dies für die Besetzungspolitik, für Rollenprofile bedeutet, kann man nur erahnen. Aber nicht umsonst taucht in Essen und an anderen Schulen wie ein Mantra das Wort von der "Selbständigkeit" auf. Offensichtlich geht es dabei um Strategien, die als empowerment in Mode sind. Empowerment wurde ursprünglich von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der siebziger Jahre geprägt und meint eine Selbstermächtigung, die Verantwortung nicht mehr auf Instanzen wie Gesellschaft oder Eltern abwälzt. Nach Gründen wird nun nicht mehr gefragt; empowerment will die vermeintlich ungenutzten Autonomie- und Machtquellen des Subjekts freisetzen und sie einer umfassenden Selbstkontrolle zuführen. Die Parallelen zur Schauspielausbildung sind dabei schlagend. Mit anderen Worten: die Folgen der Erziehung von 68 werden nun mit weiterentwickelten Empowermentstrategien derselben Generation wieder wettgemacht, damit den Schauspielschülern der raue Wind des Marktes zur Brise wird.
All die neuen Lehrinhalte müssen nun mit dem im "Bologna-Prozess" vorgesehenen Modulsystem und der Bachelor/Masters-Struktur des Studiums verbunden werden. Um den Bachelor hat man sich in Essen allerdings gedrückt und den neuen Folkwang-Abschluss kurzerhand in "Art Diploma" umbenannt. "Unsere intensive Ausbildung ist eher dem Master adäquat", begründet Hanns-Dietrich Schmidt die Entscheidung.
In der Schweiz ist man da weiter. Die deutsche Kritik an der modularisierten Schauspielausbildung wie der Umwandlung des Diplomabschlusses teilt Hartmut Wickert, der Departmentleiter für Darstellende Kunst und Film der Zürcher Hochschule für Musik und Theater, nicht. In Zürich hat man einen dreijährigen Bachelor-Studiengang eingerichtet, der allerdings nicht "berufsqualifizierend" ist; sondern nur die "Eintrittsberechtigung, um den eineinhalbjährigen Master-Studiengang zu beginnen". Am schauspielerischen Basisunterricht ändert sich nichts, doch der ab 2008 angebotene Masterstudiengang soll als "projektorientierter Ausbildungsteil, bei dem größere und kleinere Aufführungen realisiert werden" dann mehr Mobilität ermöglichen. Dafür haben sich die Schauspielschulen in Zürich, Bern, Verscio und Lausanne zu einem Angebotspool zusammengeschlossen, aus dem die Studenten sich ihre Fächerkombination zusammenstellen. Schon heute machen Studenten aus Gießen und Hamburg ihren Abschluss in Zürich. Hartmut Wickert kann sich vorstellen, dass in Zukunft in Bereichen wie Performance auch englischsprachige Studenten nach Zürich kommen. Schöne Welt der Globalisierung oder neue Internationale der Schauspielkunst?
Bologna wird kommen und die hiesigen staatlichen Schulen werden sich dem anpassen müssen. Doch was bedeutet "Bologna" für die privaten Schauspielschulen? "Wir haben ein sehr kritisches Verhältnis zu den privaten Schauspielschulen", sagt Michael Schäfermeyer von der ZBF ohne Umschweife und weist auf Defizite bei den Ausbildungszeiten, den Curricula oder den Lehrenden hin. Die Zahl der Privaten schätzt er auf 150 bis 200 - gegenüber 18 staatlichen deutschsprachigen Schauspielschulen. Dass dies zu einem Zweiklassensystem geführt hat, ist nur das eine. Der gewaltige Output der Privaten sei auch arbeitsmarktpolitisch ein Problem, weil die meisten Schüler auf dem Markt gar keine Chance hätten. Bis auf wenige Ausnahmen lässt die ZBF zu ihren Vorsprechen Privatschulen gar nicht mehr zu: "Die Ergebnisse sind in aller Regel deplorabel". Eine dieser Ausnahmen ist die Schule des Kölner Theater der Keller.
Symptomatisch ist, dass 1954 zunächst die Schule, dann erst das Theater gegründet wurden. Diese Genese ist Programm insofern, als die Schüler bereits früh Bühnenerfahrung sammeln sollen. Der Lehrplan mit Grundlagenunterricht, tägliches Bewegungstraining bis zu individuellem Rollenstudium unterscheidet sich kaum von der Folkwang Hochschule. Erstaunlich ist jedoch die große Anzahl von 19 Dozenten, aus dem vor kurzem Dozentin Estera Stenzel als Professorin an die Hochschule Ernst Busch berufen wurde.
Doch die geringe Zahl von 24 Semesterwochenstunden führt ins Herz des Problems. Privatschulen sind Wirtschaftsunternehmen, die von ihren Einnahmen leben müssen. "Dadurch dass sich die Schule vollständig selbst finanziert", so Direktor Hanfried Schüttler, "ist keiner der Lehrer festangestellt." Jede Erweiterung des Lehrangebots kostet Geld, das die Schüler bezahlen müssen. Die monatlichen Belastungen liegen jetzt schon bei 350 Euro im ersten und 385 Euro ab dem zweiten Jahr. Die Schule gerät dadurch in einen Teufelskreis: je mehr Schüler, desto mehr Einnahmen. Trotzdem leistet man sich ein knallhartes Prüfsystem, das nach jedem (!) Semester aussiebt, so dass am Ende der Ausbildung von 15 Schülern oft nur noch acht übrig bleiben. "Bisher hat das Inhaltliche über das Wirtschaftliche gesiegt", sagt Hanfried Schüttler stolz. Was andererseits zur Folge hat, dass Schüler im zweiten Jahr nur 90 Minuten genuinen Rollenunterricht pro Woche erhalten.
Nun kommen die Auswirkungen des "Bologna-Prozesses" hinzu. Dass Studenten zwischen privaten und staatlichen Hochschulen wechseln, scheint wenig wahrscheinlich. Vielleicht deshalb spricht Hanfried Schüttler eher von Kooperationen mit Medienhochschulen, Angeboten im Bereich Fernsehen und Casting, stärkerer Verbindung von praktischer und inhaltlicher Arbeit. Seine Marktanalyse und Lösungsstrategien ähneln dann auf verblüffende Weise denen der Folkwang-Hochschule. Auch an der Schule des Keller Theaters sollen Eigenengagement und Selbstermächtigung des Schülers immer größer geschrieben werden.
Und gerade da fühlen sich die Keller-Schüler im Vorteil. Der junge Firat Baris Ar: "Wir wissen, dass wir eine gute Ausbildung bekommen, aber letztendlich ist es eine private Schule und wir müssen mehr kämpfen." Der türkischstämmige Schauspielschüler weiß, wovon er spricht. Er hat seine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann abgebrochen, musste seine Eltern von seinen Plänen überzeugen, hatte nach drei Vorsprechen immerhin zwei Zusagen von Schulen und ist nun, wie er sagt, in eine völlig neue Welt eingetaucht. Um die Zukunft ist ihm deshalb nicht bang. "Ich glaube, dass die Leute, die es hier schaffen, härter und innerlich reifer sind als die anderen." Keine schlechten Voraussetzungen, um am Ende auf dem hart umkämpften Markt zu bestehen.
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