Es war wohl als Metapher gemeint, dass der spanische Regisseur Àlex Rigola die Protagonisten in seiner Produktion European House nahezu stumm agieren ließ. In einem aufgeschnittenen dreistöckigen Gebäude, das zum Publikum mit einer Scheibe abgedichtet ist, sieht man eine Familie, ihren Alltag verrichten. Angelehnt an Shakespeares Hamlet wird getrauert, intrigiert, geliebt, ein Geist beschworen, geduscht und der Zuschauer darf als Voyeur dabei sein. So düster die Vision sein mochte, die die Produktion des Teatre Lliure Barcelona zum Auftakt zeichnete, das Düsseldorfer Festival Das Neue Europa - Warten auf die Barbaren machte es sich zur Aufgabe genau dieses Bild zu durchbrechen.
Anlässlich der EU-Osterweiterung vor zwei Jahren beschloss das Düsseldorfer Schauspielhaus unter Intendantin Anna Badora, das politische Ereignis mit längerem Nachhall zu feiern und die neuen Mitgliedsstaaten dabei selbst zu Wort kommen zu lassen. Anstatt ausschließlich Gastspiele aus den Beitrittsländern zur theatralischen tour d´horizon einzuladen, vergab man Stückaufträge an fünf namhafte osteuropäische Autoren, darunter Andrzej Stasiuk, Juri Andruchowytsch und Jáchym Topol. Deren Dramen kamen in den letzten Monaten als Uraufführungen am Düsseldorfer Schauspielhaus heraus und bildeten jetzt den Kern des Festivals. Als inhaltliche Leitlinie fungierte das von Anna Badora und Andrzej Stasiuk ersonnene Diktum vom "Theater des europäischen Hasses". Was damit gemeint war, machte dessen Stück Nacht schnell deutlich.
Im Zentrum der "slawo-germanisch medizinischen Tragikfarce" (so der Untertitel) steht ein polnischer Autodieb, der beim Versuch, einen deutschen Juwelierladen auszunehmen, erschossen wird. Die Volte: der Besitzer des Geschäfts wartet auf ein Spenderherz und mit dem toten Räuber ist es nun soweit. Natürlich ist der Juwelier ein mieser rassistischer Deutscher, der mächtig Pogo auf dem OP-Tisch macht, als er von der Herkunft seines neuen Herzens erfährt. Genauso selbstverständlich ist der kleine Dieb ein mit allen kleinkriminellen Wassern gewaschener Überlebenskünstler. Selbst als er tot ist, handelt er seiner kokett-unschuldigen Seele mit einer irrwitzigen theologischen Kasuistik noch eine befristete Rückkehr zur Erde ab. Am Ende sitzen Juwelier und Dieb einträchtig am Krankenbett, fachsimpeln über deutsche Qualitätstechnik und polnischen Qualitätsdiebstahl und sind sich mit Hilfe eines transplantiertem slawischen Herzens näher gekommen.
Stasiuks hochkomische Farce, die Regisseur Mikolaj Grabowski mit deutschen und polnischen Schauspielern leichthändig inszenierte, birst geradezu vor Stereotypen und Klischees, Sentiment und rüdem Machogehabe, Kriegserinnerungen und reaktionärem Gewäsch. Und genau darauf zielte das Diktum vom "Theater des europäischen Hasses": die satirische Demontage der Vorurteile und Ängste, die die jeweiligen Nationen voreinander hegen. Zugleich ließen sich darin neben der postmodernen Ironie auch die alten Traditionslinien des polnischen absurden Theaters erkennen.
Auch Juri Andruchowytsch, der kürzlich mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet wurde, bedient sich der Groteske, um der Ost-West-Realität habhaft zu werden. In Orpheus illegal schickt er den Autor Stanislaw Perfetzki nach Venedig, um gegen die Abschottung des Westens zu protestieren. Der gerät dort in einen Dekadenzpfuhl mit durchgeknallten Wissenschaftlern, hysterischen Feministinnen und lüsternen Kellnern, aus dem ihm nur der Ausweg in den Selbstmord bleibt. Ob Idealist oder Schlawiner (wie bei Stasiuk), letztlich wird der osteuropäische Held als beklagens- oder bewundernswertes Opfer inszeniert - wie ironisch auch immer das gemeint sein mochte.
Es gehört zum verblüffenden Befund bei Halbzeit des Festivals, dass keiner der beauftragten Autoren die Situation im eigenen Land beschreibt. Bei Stasiuk gibt es zumindest Andeutungen, doch er wie auch Andruchowytsch schicken ihre Helden in den Westen. Bei dem tschechischen Autor Jáchym Topol geht es in die entgegengesetzte Richtung. In seiner Reise nach Bugulma macht sich der ehemalige Chefhenker von Prag auf die Suche nach dem letzten kommunistischen Paradies. Fündig wird er in einem früheren stalinistischen Gulag in Sibirien, wo seine verschleppte Frau Geschlechtsumwandlungen an Leichen vornimmt. Während das Eis durch die Erderwärmung Hektakomben von Toten freigibt, kommt es zur herzerwärmenden Familienzusammenführung. Die Erinnerung an ´bessere Zeiten´ wird hier zur grausigen Utopie umgemünzt - die sich tief im russischen Nordosten erfüllt.
Auf der Bühne konnte von den drei Stücken allerdings nur Stasiuks Farce überzeugen. Das lag zum einen an den Inszenierungen. Anna Badora gelang allenfalls ein routiniert parodistischer Zugriff auf Orpheus illegal und Gustav Ruebs angewandter Naturalismus mit Zottelbart und Schaumschneesturm half der Reise nach Bugulma nicht wirklich weiter. Es lag aber auch an der Qualität der Stücke. Mit Stasiuk, Andruchowytsch und Topol hatte man Autoren ausgewählt, deren Domäne eher Roman und Essay ist und das war ihren Stücken bis in Handlungs- und Dialogführung anzumerken. Ärgerlicher dann allerdings, dass die moldawische Jungdramatikerin Nicoleta Esinencu, die gerade einen Stipendienaufenthalt auf Schloss Solitude verbringt, nicht mit ihrem vielgespielten Fuck you, Eu.ro.Pa! eingeladen war, sondern mit Fernweh Dromomania, einem Stück für die Stuttgarter Hochschule für darstellende Kunst, das sich als Aneinanderreihung von acht Vorsprech-Monologen für Schauspielschüler entpuppte und das inhaltlich nur mit viel gutem Willen ins Festivalprogramm passte.
Auch in anderer Hinsicht hätte man sich die Konturen etwas klarer gewünscht. Das Düsseldorfer Schauspielhaus hatte die gute Idee, seine Auftragswerke in Koproduktion mit osteuropäischen Theater herauszubringen. Das funktionierte beeindruckend bei Stasiuks Nacht, für das man sich mit dem Stary Teatr Krakau zusammentat. Bruchlos fügten sich polnische und deutsche Schauspieler in dieser zweisprachigen Produktion zum Ensemble. Für Andruchowytschs Orpheus illegal holte man neben dem Molodyj Theater aus Kiew auch das Teatro Garibaldis Palermo ins Boot. Der sizilianische Koproduzent revanchierte sich dafür mit dem Gastspiel von La Gatta di pezza, einem sich zäh sich dahinschleppenden, düster-poetischen Sozialdrama. Was allerdings diese Produktion oder auch das anfangs erwähnte spanische "European House" mit Osteuropa zu tun haben, bleibt das Geheimnis der Düsseldorfer Festivalmacher.
Möglicherweise lag es an dieser Unschärfe, dass vor allem die Gastspiele eher schlecht besucht waren und Festivalstimmung kaum zu spüren war. Zwar stehen noch Lesungen der Stücke von Péter Zilahy und Marius Ivaskevicius und vor allem eine Vorstellung des hochgelobten Katona Jostef Szinhaz-Theaters aus Budapest mit der Kafka-Adaption Rattled and Disappeared an - doch zur Halbzeit fällt die Bilanz eher zwiespältig aus. Das Warten auf die Barbaren - der Titel spielt auf das gleichnamige Gedicht des Lyrikers Konstantinos Kavafis an - hat sich bisher noch nicht gelohnt.
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