Eine U-Bahn-Linie erinnert sich

Bühne In Essen geht das Theater dahin, wo die Stadt planerisch und ästhetisch weh tut: In der U-Bahn und im Beton der Stationen ertönt die "Eichbaumoper"

Den Essener Stadtteil Segeroth gibt es nicht mehr, er wurde aus Erzählungen reanimiert. Migrantische Jugendliche haben im Theater keinen Platz, sie wurden auf die Bühne geholt. Seit vier Jahren erkundet das Schauspiel Essen die Stadt, indem es Ort und Menschen zum Geschichtenerzählen anstiftet. Mehrere Projekte beschäftigten sich dabei mit der U-Bahn-Linie 18, die Mülheim und Essen verbindet. An ihr liegt der Bahnhof Eichbaum als in Beton erstarrtes Mahnmal der Städteplanung der sechziger Jahre.

Mit dem Projekt Die Eichbaumoper wird an dem Unort nun die artifizielle Kunstform des Musiktheaters als theatrale Stadtintervention implantiert. Kaum haben die Zuschauer am U-Bahnhof Hirschlandplatz die Linie 18 betreten, kommt es zu einer Vollbremsung. Der Lautsprecher meldet einen technischen Defekt und die U-Bahn singt plötzlich durch die Membran vom Elend des Wartens. Ein Ehepaar erinnert sich an das Viertel vor dem Bau der Linie 18, ein Verrückter mosert vor sich hin, ein Mädchen gibt zu Fagott-Begleitung eine Arie des Selbstbewusstseins.

Der erste Teil, Entgleisung von Librettistin Bernadette La Hengst und Komponist Ari Benjamin Meyer, macht sich geschickt die Form der Nummernoper zunutzte für ein disparates Puzzle aus Gedanken, Szenenfragmenten, Kurzdialogen. Auf dem Bahnsteig Eichbaum mündet sie in eine große Arie für Sopran (La Hengst), Chor und Orchester, die irgendwo zwischen Minimal Music und Song changiert und ironisch die Linie 18 über ihr U-Bahn-Dasein reflektieren lässt.

Die Eichbaumoper ist eine Koproduktion von Schauspiel Essen, dem Gelsenkirchener Musiktheater, dem Mülheimer Ringlokschuppen unter der baukünstlerischen Leitung von Jan Liesegang und Matthias Rick vom Berliner Raumlabor. Artifiziell mutet das dreiteilige Werk an, das in einem fast einjährigen Prozess entwickelt wurde. Auch wenn man das man dem zweiten Teil, der Kammeroper Simon der Erwählte von Isidora Žebeljan (Musik) und Borislav Čičovaki (Libretto) kaum anmerkt. Eine Parsifal-Geschichte, aufgepeppt mit Migrationselementen, die als hochexpressives Musiktheater mit einem beeindruckenden Piotr Prochera in der Titelpartei daherkommt, sich mit dem Ort allerdings nur über den Gestus der Verweigerung verbindet. Was schade ist, denn die Zuschauer sitzen nun unter freiem Himmel auf einer Tribüne, die mit Orchestergraben und Bühne zwischen die Gleise der U18 geklemmt ist.

Kongenial gelingt die Verbindung Reto Finger (Libretto) und Felix Leuschner (Musik) im dritten Teil. Fünfzehn Minuten Gedränge ist ein komponierter Bewusstseinstrom aus geronnenen Wortfetzen und Gedanken. Rudimente von Geschichten blitzen auf verschwinden. Regisseurin Cordula Däuper lässt Statisten als Passanten die Spielfläche queren, während sechs Sänger und der Chor in Konzertrobe sich behaupten müssen und eine Frau auf dem Dach der Station sich umzubringen versucht. Werk und Inszenierung spielen geschickt mit Rhythmen und Klängen des Verkehrs, die sie in etwas Eigenes transformieren. Sicherlich der gelungenste Teil des zweistündigen Abends, der am Ende nicht falsche Versöhnlichkeit behauptet, sondern den Besucher mit dem wohltuenden Gefühl des Fremdseins im Vertrauten in die Nacht entlässt.


Die Eichbaumoper wieder am 2., 3. und 4. Juli in Essen.

www.eichbaumoper.de

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