Die Tendenz ist nicht neu. Nach Jahren der Selbstbespiegelung und Spaßhuberei wendet sich das Theater wieder gesellschaftlichen Problemen zu. Lukas Bärfuss´ Glaubensdrama Der Bus war dafür im vergangenen Jahr der preisgekrönte Indikator. Nun ist das Mülheimer Stücke-Festival kein Trendbarometer, sondern prämiert das beste deutsche Drama. Doch auch für den Jahrgang 2005/2006 gilt: So viel dramatisierter gesellschaftlicher Missstand war lange nicht: Vom Irakkrieg über die Verschuldung von Privathaushalten, die Alterung der Gesellschaft, Gewalt unter Jugendlichen, Arbeitslosigkeit bis zur Klage über das Theater als leerlaufende Repräsentationsmaschine all diesen Elends.
Bestes Beispiel dafür war Moritz Rinkes Café Umberto, in dem drei Paare die Deformierung privater Beziehung unter dem Aufprall grassierender Arbeitslosigkeit vorführen. Das Stück treibt seine Figuren aufs schwankende Seil einer gnadenlosen Selbstvermarktung, wo sie verzweifelt um Restbestände an Würde, Moral und Mitmenschlichkeit ringen. Als Spielort wählt Rinke eine voll automatisierte Arbeitsagentur. Sie wird zum Lakmusstreifen der Absurdität, der die tragischen Abstürze der Figuren zur bitteren Komik abfedert - was nicht zuletzt kaschiert, dass es dem Personal mitunter an realistischer Grundierung fehlt.
Rinkes Verfahren zeigt einmal mehr, dass in Zeiten der Globalisierung das Elend als Sozialdrama nicht mehr zu haben ist. Als Ausweg bleiben Drahtseilakte des Tragikomischen oder der Rückgriff auf Formen des Dokumentarischen wie bei Kathrin Röggla. In ihrem neuen Stück draußen tobt die dunkelziffer wendet sie sich dem Problem der Verschuldung privater Haushalte zu. Grundlage sind wie immer umfangreiche Recherchen und Interviews, die zu einem bissigen Zustandsbericht aus den Niederungen des alltäglichen Kapitalismus kondensiert werden. Das Stück verzichtet auf Dialoge oder Einzelschicksale, sondern verquickt Statements von Schuldnern, Schuldnerberatern und Treuhändern zu einem entlarvenden Jargon konsumistischer Eigentlichkeit - was durch die chorische Inszenierung des Berliner Maxim-Gorki-Theaters kongenial unterstützt wurde. Ebenfalls ins dokumentarische Fach fällt Andreas Veiels und Gesine Schmidts Der Kick über den rassistischen Mord von drei Jugendliche an ihrem Kumpel im brandenburgischen Potzlow. Auch hier authentisches Textmaterial, das allerdings als kühle Dokumentation hergerichtet ist.
Jede Festivalauswahl produziert Widerspruch. Um so mehr wenn aus insgesamt 140 gesichteten Stücken und Aufführungen nur sieben Produktionen ausgewählt werden. Natürlich stellte sich die Frage, warum Botho Strauß´ Die Schändung nicht dabei war. Oder, wo eigentlich all die Jungautoren geblieben sind. Es überraschte allerdings, dass Auswahlchef Jürgen Berger über Elfriede Jelinek sagte, sie gehöre zu Mülheim wie das Burgtheater zu Wien. Der Erbhof als Festivalstrategie? Jelinek, die mit ihrem dreiteiligen Irakkrieg-Monolog Babel und damit zum vierten Mal in fünf Jahren dabei war, steht pars pro toto für ein Mülheimer Definitionsproblem. Als Forum für die Jungen dienen heute eher die an größeren Theatern veranstalteten "Autorentage" - weshalb man in Mülheim meist "nur" die üblichen Verdächtigen trifft. Andererseits gilt das Einladungskriterium "Qualität eines Stücks" nur solange, wie dessen Inszenierung als geglückt erscheint. Ein Dilemma, dem immer wieder gute Stücke zum Opfer fallen und das offenbar nicht aufzulösen ist.
Einer dieser Verdächtigen war in diesem Jahr René Pollesch, dessen Capuccetto Rosso all das in Frage stellte, was andere Autoren an gesellschaftlichen Missständen auf die Bühne brachten. Das Repräsentanzproblem des Theaters wird diesmal am Beispiel einer Schauspielerin durchgespielt, die angeblich ihren Zauber verloren hat. Pollesch hechelt von der filmischen Verwertung der Nazivergangenheit bis zu neoliberalen Glücksversprechen alles mögliche durch und zielt damit treffsicher und sarkastisch auf die Elendsaufbereitungsanlage "Theater".
Selbst ohne den Diskursmaschinisten Pollesch überraschte in diesem Jahr die Dominanz der Sprachakrobaten, speziell österreichischer Herkunft. Zu Jelinek und Röggla kam noch Gert Jonke mit seiner Versunkenen Kathedrale, in dem ein junges Ehepaar im Altersheim landet, wo eine Schar von Einsamkeitsdiven ihre Pirouetten dreht. Ein eher undramatischer Parcours der Skurrilität, der seine Wirkung vor allem der hochmusikalischen Regie Christiane Pohles verdankte. Den österreichischen Reigen komplettierte schließlich der Tiroler Händl Klaus. Sein neues Stück Dunkel, lockende Welt ist eine absurde Etüde über eine Kieferchirurgin, die sich mit ihrem Vermieter um ein auftauchende Zehe streitet und dann ihre Mutter bittet, das Corpus delicti zu beschaffen. Die wiederum trifft in dem Vermieter den möglichen Vater ihrer Tochter. Dunkel, lockende Welt ist eine Sumpfblüte des Verschrobenen, die mit ihrer verschlingenden Dialogführung auf Eltern-Kind-Symbiosen, auf Morde, auf Hitchcock und ähnliches anspielt, aber die Triebschublade nie aufreißt. So komisch das ist, die Qualität von Händls Erstling Wilde oder der Mann mit den traurigen Augen erreicht sie nicht.
Trends zu benennen ist bekanntlich ein müßiges Unterfangen. Trotzdem fällt auf, dass sich das Problembewusstsein der Autoren meist auf die eigene gesellschaftliche Schicht richtet: Hauptfiguren sind Künstler und Akademiker. Wer sich an Kleinbürger oder Arbeiter wagt, tut dies allenfalls mit der Rückversicherung des Dokumentarischen. Und in beiden Fällen dominiert der tragikomische Zugriff. Die Ironie hat also keineswegs abgedankt, sie richtet sich nun nur eher auf die traditionellen dramatischen Formen, die für eine Beschreibung aktueller gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht mehr taugen. Diesem Formbewusstsein entspricht schließlich das hohe sprachliche Gestaltungsniveau, das gerade auch bei jungen Autoren zu beobachten ist. Man könnte hier vielleicht vom "Bewusstsein der Kontingenz und Hinfälligkeit des (dramatischen) Vokabulars" (R. Rorty) sprechen - als Trend vielleicht nicht der schlechteste.
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