Identifikation einer Frau

Bühne Am Schauspiel Köln inszeniert Katie Mitchell den Text "Reise durch die Nacht" von Friederike Mayröcker kongenial – obwohl sie sich inhaltlich von der Vorlage entfernt

Spätabends in Paris. Ein Paar hetzt mit dem Taxi zur Gare de L’Est. Cafés, Hotels, Passanten fliegen vorbei. Auf dem Bahnsteig die Suche nach dem Schlafwagenabteil im Zug nach Wien, dann lässt sich das nicht mehr junge Paar nieder. Geschafft. Die Kamera fährt langsam auf das Gesicht der Frau (Julia Wieninger), bis sie in Großaufnahme zu sehen ist, und dann fällt zentnerschwer aus dem Off der Satz „Im Grunde habe ich alles falsch gemacht“.

Vorproduziertes Filmmaterial steht signalhaft am Anfang der neuen Inszenierung von Katie Mitchell am Schauspiel Köln. Die britische Regisseurin, bekannt für ihr Making-of-Video-Theater, hat nicht nur den Akzent deutlich von der Bühne zum Bild verschoben. Anders als in den letzten Produktionen nach Texten von Virginia Woolf und W. G. Sebald rückt der technische Aspekt hier in den Hintergrund zugunsten einer Konzentration auf die Geschichte einer Figur und einen Plot.

Als Vorlage dient Friederike Mayröckers 1984 erschienener Kurzroman Reise durch die Nacht. Ein 130 Seiten starker monologischer Bewusstseinsstrom, in dem die Zugfahrt den Rahmen bildet für das Eintauchen der Ich-Erzählerin in die Echokammer der Assoziationen. Harsche Selbstexamination wechselt sich mit Erinnerungen an die Eltern, mit Naturschilderungen, Verweisen auf die Bildende Kunst oder die Rekapitulation der Beziehung zu ihrem Partner Julian ab – alles ist Material für die „Schreibarbeit“, die Transformation von Erfahrung in Sprache.

Konzentration und Dissoziation

Mitchell nimmt Mayröckers Text als Anlass für eine Geschichte, die sich um die Vater-Erinnerung, die Schreibpraxis und einen hinzuerfundenen Quickie mit dem Schaffner gruppiert. All das spielt sich unterhalb der Cinemascope-Leinwand in einem nachgebauten Waggon ab (Bühne: Alex Eales), dessen Abteile wie in einem Filmstudio begehbar sind: für eine Gruppe von sechs Kameraleuten, die das Live-Material drehen.

Man blickt in die schrundige Seelentopographie von Julia Wieningers Gesicht. Sieht ihr beim Ringen um Sätze zu, die sie mit blauem Filzstift hastig in eine Kladde schreibt. Verzweifelt wehrt sie sich gegen die Erinnerung („Ich könnte auf meine Vergangenheit verzichten“), aber dann schieben sich doch die weich gezeichneten Bilder des „armen Pfeifenvaters“ (Nikolaus Benda) dazwischen, wie er eine Puppe repariert oder die Mutter schlägt. So faszinierend und soghaft der Abstieg einer Frau in die Abgründe von Depression gelingen, die kurze Nummer mit dem Schaffner (Renato Schuch) wirkt etwas kolportagehaft – auch wenn Mitchell während des Akts unerbittlich mit der Kamera das Gesicht von Wieninger ausforschen lässt.

Was diesen Abend letztlich stimmig macht, ist nicht nur die Konzentration auf eine Frauenfigur. Die Stimme der Erzählerin wird auf die Schauspielerin Ruth Marie Kröger ausgelagert, Körper, Sprache und bildliche Imagination fallen komplett auseinander und orchestrieren wirkungsvoll die Dissoziation der Hauptfigur.

So sehr sich Mitchell inhaltlich von der Vorlage entfernt, strukturell verbindet sich ihr intermediäres Verfahren auf kongeniale Weise mit Mayröckers Text. Am Morgen: Ankunft Wien. Ein schneller Kuss mit dem Schaffner und die Entdeckung der Kurzaffäre durch den Ehemann (Daniel Betts), der ähnlich aggressiv reagiert wie zuvor der Vater. Am Schluss geht eine Reinigungskraft durchs Abteil. Die vergessene Kladde der Frau mitsamt dem Foto ihres Vaters wandert einfach in den Müll.

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