Der schwarze Engel der Aufklärung, Botin des Todes, trägt unschuldiges Weiß und Hellblau. Sandra Hüller stöckelt als Meriem mit entschlossenem Schritt über den staubigen Boden. Jeder Tritt strahlt das Selbstbewusstsein der westlichen Kultur aus, die in die verdüsterte Welt der algerischen Familie Ould El-Assase einbricht, um dieser den Tod des Sohns Moussa zu verkünden. 20 Jahre nachdem Moussa in einem sinnlosen Akt von dem Franzosen Meursault erschossen wurde, der dafür zur Ikone des Existenzialismus aufstieg: als Held von Albert Camus’ Roman Der Fremde.
Drei Mal wird Sandra Hüller an diesem Abend mit dem Satz „Ich heiße Meriem“ in Johan Simons’ Inszenierung Die Fremden auftreten. Eine Frau, die einen Namen hat.
Namenlosigkeit ist das vordergründige Motiv, aus dem Kamel Daouds Roman Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung (2013) seine Existenzberechtigung schöpft. Ausgangspunkt ist ebenjene 1942 erschienene Existenzialistenbibel von Albert Camus, in der Meursault zur Beerdigung seiner Mutter nach Algerien fährt, dort „einen Araber“ erschießt und schließlich zum Tode verurteilt wird. Einen Araber, der ohne Namen, ohne Identität, ohne Geschichte bleibt. Daoud gibt diesem Unbekannten einen Namen: Moussa. In einer gewaltigen Rekapitulation lässt er dessen Bruder Haroun von der Familie und von Moussas Tod erzählen.
Klingt ironisch
Daouds Roman ist nicht nur eine Gegendarstellung, er verschränkt sich filigran mit Camus’ Vorlage und entwirft ein Bild der wechselseitigen Projektion, mit der Kolonisierte und Kolonisatoren aneinandergekettet bleiben: Harouns Beziehung zu seiner Mutter, sein Mord an einem Franzosen, die Sinnleere seines Lebens spiegeln Camus’ Motive. Dieses intertextuelle Verfahren wirft ein höchst ambivalentes Licht auf die Geschichte Algeriens vom Befreiungskrieg bis heute.
Diese Verschränkung treibt die Inszenierung von Johan Simons in der Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl weiter voran, wenn er in der ersten Hälfte Harouns Erzählung mit Zitaten aus dem Verhör in Camus’ Roman verzahnt. Die fünf Schauspieler lagern gemeinsam an einer Schotterböschung und lesen aus Camus’ Roman. Pierre Bokma schnarrt als Kolonialbeamter die Fragen heraus, die Gruppe antwortet als Meursault. Gleichzeitig wird in einer Art kollektiver Erinnerungsarbeit der junge Moussa heraufbeschworen.
Elsie de Brauw als Mutter beschreibt ihren Sohn liebevoll und bekommt von Meriem die algerische Fahne um den Kopf gelegt: Muslima und Mater dolorosa zugleich. Benny Claessens tanzt als algerisches Liberation-Showgirl über die Szene. Gemeinsam mit Risto Kübar hockt er am Boden und lässt den Kohlenstaub auf ein Paar einsame Schuhe rinnen. Memento und Begräbnis. Die Schauspieler wechseln beständig Rollen und Identitäten: Was fremd, was eigen ist, bleibt das Produkt von Behauptung und Zuschreibung.
So einleuchtend diese dramaturgische Strategie auf dem Papier in der Textfassung von Tobias Staab und Vasco Boenisch sein mag, sie löst nicht nur Daouds schweifenden Erzählduktus auf. Der Abend zerfällt in eine Sammlung szenischer Fragmente, deren ästhetisch-analytischer Gehalt allzu oft unbestimmt bleibt. Identitätspolitisch mag diese Unschärfe triftig sein, ästhetisch streift sie die Beliebigkeit. Verstärkt wird das dadurch, dass Simons gleichzeitig auf zwei weiteren Ebenen erzählt. Der niederländische Filmemacher Aernout Mik „unterlegt“ den ersten Teil mit dokumentarischem Filmmaterial aus der Zeit der Befreiung Algeriens: Straßenszenen, zerstörte Häuser, Familien beim Ausflug oder Kinder, die Soldaten spielen, die über eine Illustration nicht hinausgehen. Und auch das mitten auf die Spielfläche gesetzte Asko/Schönberg-Ensemble unter Leitung von Reinbert de Leeuw trägt wenig zur Erkenntnis bei. Lassen sich Mauricio Kagels Die Stücke der Windrose noch mit ihren ironischen Klanggesten der Himmelrichtungen rechtfertigen, wirkt György Ligetis Kammerkonzert zu den Verhörszenen eher willkürlich.
Als musikalisch-szenischer Drehpunkt, der kurz das Geschehen stillstellt, erweist sich dann Claude Viviers homophone Stadtfantasie Bouchara, gesungen von der Sopranistin Katrien Baerts. Simons’ Inszenierung verzettelt sich nun in hochpathetischen Bildern, die an seine Accattone-Inszenierung vom vergangenen Jahr erinnern. Die gewaltige Kohlenmischanlage, die die Bühne begrenzt hatte, fährt in den Hintergrund, mächtige Scheinwerfer tauchen sie ins Gegenlicht. Die Schauspieler verlieren sich als Einsamkeitstrabanten in der Weite des Raumes. Mit schlenkernden Armen stehen sie unter einer Leinwand, auf der offenbar mitteleuropäische Flüchtlinge von einer deutschen Polizistin mit Hidschab bewacht werden: eine schlichte Umkehrung der Verhältnisse. Ästhetisch flüchtet Johan Simons am Ende in die Arme von Albert Camus und dessen existenzialistischem Pathos. Es ist theatralisch eben doch wirkungsvoller als Kamel Daouds beißende Dialektik.
Info
Die Fremden Regie: Johan Simons Ruhrtriennale, Zeche Auguste Victoria, Marl
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