Lears letztes Band

Das Nomadische als Modell Das Theater Mülheim an der Ruhr wird 25 und feiert mit einer Preisverleihung, Buchvorstellung und einem zutiefst düsteren "König Lear" Geburtstag

Als Logo dient nach wie vor ein Autobahnschild. Ein Pfeil weist geradeaus, der zweite mit dem Hinweis "Theater a.d. Ruhr" nach links. Ein klarer Hinweis, wohin der Weg führt, wenn man die ausgetretenen Pfade des deutschen Stadttheatersystems verlassen möchte.

Seit 1981 funktioniert das Theater an der Ruhr als Modell einer Bühne mit so genannten schlanken Strukturen. Als spiritus rector hatte Regisseur Roberto Ciulli während seiner Tätigkeit an den Bühnen in Düsseldorf und Köln das Stadttheater mit seinen Kunst verhindernder Strukturen kennen und fürchten gelernt. Was dieses an Beharrungsvermögen und Staumaterial produzierte, sollte am Mülheimer Theater in Fluss gebracht werden: keine starren Arbeitszeiten, keine Kameralistik, kein Regietourismus, kein Theater nach Dienstplan.

Zentrales Organisationsmoment diese Theater ist der "Dialog". Im Innern zwischen den Mitarbeitern, aber auch nach Außen. Nur ein Drittel seiner Vorstellungen spielt man im Stammhaus am Raffelbergpark, den Rest der Zeit verbringt man auf Gastspielreise. Sowohl im deutschen Hinterland zwischen Viersen und Pullach, aber auch im Ausland von Iran bis Mexiko. Damit lebt das Theater an der Ruhr nicht nur aus dem Geist des Nomadischen, erfüllt einen nicht hoch genug einzuschätzenden kulturpolitischen Auftrag im Sinne ständigen Austausches, sondern spielt nahezu 40 Prozent seines Etats von knapp 3,6 Millionen Euro selbst ein. Trotz des allgegenwärtigen Finanzdrucks auf die Theater, als Modell hat sich Mülheim (noch) nicht durchgesetzt, wohl auch, weil es dazu eine so charismatische Führungsriege wie Ciulli, seinen Dramaturgen Helmut Schäfer, Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben und Betriebsdirektor Sven Schlötcke braucht. Aber die ersten 25 Jahre hat man durchgehalten und das galt es zu feiern.

Über mehrere Wochen lief ein umfangreiches Gastspielprogramm mit all den Bühnen entlang der alten Seidenstrasse, mit denen das Theater Mülheim Kontakte unterhält. Ciulli und Schäfer feierten das Jubiläum außerdem mit einem launigen Erinnerungsabend; man rief den Gordana Kosanovic-Preis ins Leben, der zum Auftakt an Karin Neuhäuser verliehen wurde. Und Ciulli schenkte sich, seinem Ensemble und dem Publikum einen König Lear, wie man ihn düsterer und pessimistischer kaum je gesehen hat.

All die bekannten Ciulli-Ingredienzen, ob Clownsnase, Zaubertrick oder Affenmaske, sind gestrichen. Shakespeares Drama um den alten König, der sein Reich unter seinen Töchtern aufteilt, spielt in einem leicht abgesenkten, schwarzen, mit Neonröhren abgezirkelten Geviert. Neben ein paar Stühlen, einer Leiter wird vor allem das auf einem Tisch postierte Tonbandgerät zur zentralen Metapher des Abends. So wie Lear seinen Beschluss zur Reichsteilung vom Band abspielt, werden an diesem Abend viele Dialoge als aufgezeichnete Erinnerung zu hören sein. In Anspielung auf Becketts Stück Das letzte Band rekapituliert das Lear-Personal sein Leben und seine Geschichte mit Hilfe von Tonbandaufzeichnungen. Immer wieder hetzen sie zum Tisch, lauschen Satzfetzen, Musik- und Gewittereinspielungen und entfliehen damit der bleischwer lastenden Lethargie, die alle Figuren unerbittlich im Griff hält.

Im roten Mantel pendelt der Lear des Volker Roos müde zwischen Bandgerät und Schaukelstuhl, steigt kurz auf die Leiter für seinen emphatischen Monolog. Dazwischen kräht die puppenhaft erstarrte Cordelia der Simone Thoma, die zugleich auch den Narr spielt, ihre Sätze heraus. Ihre Schwestern Regan (Dorothee Lindner als Grufti) und Goneril (unbeugsam: Petra von der Beek) stehen fast unbeweglich neben ihren Ehegatten. Einzig Steffen Reubers vermeintlich wahnsinniger Edgar turnt als lendengeschürzter Wilder herum. Ciulli legt das dramatische Getriebe weitgehend still und bannt die Figuren im den kahlen Raum. Das mag als Metapher eines Endspiels, der ständigen Wiederholung des Grauens ohne Finalität, der Existenzversicherung aus der erzählten Welt stimmig sein, verleiht dem Abend aber auch eine etwas redundante Schwere und Statik. Um so mehr als die Figuren zudem wie Blinde herumtappen und damit an Maeterlincks Drama Die Blinden erinnern, in dem eine Gruppe blinder Anstaltsinsassen sich rettungslos in einem Wald verirrt. Shakespeares Lear wird so auch zu einem Bild metaphysischer Orientierungslosigkeit, die durch die Flucht ins Spiel kompensiert wird. Am Ende hockt der greise Titelheld, mit Tonbändern umwickelt und den Kochtopf auf dem Kopf, auf dem Stuhl und wird von Gloucester mit Brei gefüttert.

Und was schenkt man sich sonst noch zum Geburtstag? Ein Buch natürlich. Frank M. Raddatz hat sich unter dem Titel Botschafter der Sphinx Gedanken zum Verhältnis von Ästhetik und Politik am Theater an der Ruhr gemacht. Ein kluges Buch, das im Nebeneinander von analytischer Durchdringung, geschichtlicher Vergegenwärtigung und fotographischer Dokumentation ein scharfsinniges Zeugnis der Freundschaft sowie ein Aide-mémoire zugleich ist. Kann man sich mehr zu seinem Geburtstag wünschen?

William Shakespeare: König Lear, 6. und 15. Dezember. Karten: (0208) 59901-88.

Frank M Raddatz: Botschafter der Sphinx. Zum Verhältnis von Ästhetik und Politik am Theater an der Ruhr. Verlag Theater der Zeit, Berlin 2006, 20 Euro


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