Die Akteure hängen unter der Decke. 40 graue Maschinen, an denen nach und nach bedrohlich die Leuchtdioden anspringen. Dann setzen sich die Ungetüme in Bewegung und sprühen, spucken und reihern den Knochenstaub von Rindern aus – streng im Rhythmus der Musik. Der italienische Regisseur Romeo Castellucci inszeniert Le Sacre du Printemps, das vielleicht auschoreografierteste Stück der Tanzliteratur, ohne einen einzigen Tänzer. Stattdessen drehen sich seine technoid-mittelalterlichen Staubspeier in Pirouetten, formieren sich zum Pas de deux, addieren sich zu Gruppen. Und auch der Knochenstaub wirbelt im Gegenlicht. Ein Totentanz der Technik, der Strawinskys zwischen Frühlingseruption und Menschenopfer oszillierende Partitur zum Requiem auf unsere instrumente
instrumentelle Beziehung zur Natur umdeutet. Das Tier wird zum ambivalenten Opfer, dessen Knochenstaub später als Dünger das Wachsen wieder unterstützt. Als Castellucci am Ende Arbeiter den Staub in der Gebläsehalle im Duisburger Landschaftspark wegschippen lässt, wird dem Zuschauer endgültig flau.Mit diesem Sacre eröffnete die letzte Ruhrtriennale unter Heiner Goebbels’ künstlerischer Leitung fulminant. Der Frankfurter Komponist hat in diesem und den vergangenen zwei Jahren wie keiner seiner Vorgänger die Grenzen der Gattungen in Frage gestellt – Castellucci ist nur ein Beispiel von vielen. Zuschreibungen wie Musiktheater, Tanz oder Installation wirkten dadurch oft nur noch wie Verlegenheitslösungen.Heiner Goebbels, der vergangenen Sonntag 62 Jahre alt wurde, hat seit seinen Tagen beim Sogenannten Linksradikalen Blasorchester in der Frankfurter Spontiszene selbst genreübergreifende Stücke für Musiktheater und szenische Konzerte entwickelt. Zu den bekanntesten zählen Der Mann im Fahrstuhl und Eislermaterial. Dass unter seiner Festivalleitung die Musik im Vordergrund des Programms stehen würde, war also zu erwarten. Auch hier legte er den Akzent auf die Übergänge, zur Sound-Art, zur Improvisation oder zum verfemten Teil des Musiktheaterrepertoires. Er inszenierte 2012 John Cages Europeras und 2013 Harry Partchs Delusion of the Fury. Werke also, die einem nichterzählenden und -psychologischen Zugriff auf ihr Material verpflichtet sind und sich damit den klassischen Opernrepräsentationen verweigern.Musiktheater auf EinsIn diesem Jahr bringt Goebbels Louis Andriessens seit 1989 nicht mehr gespieltes De Materie auf die Bühne, ein Werk, das anhand von Texten vom Barock bis heute um die Frage von Geist und Substanz, des Ganzen und seiner Teile kreist. Im ersten Part, der die holländische Unabhängigkeitserklärung mit Anleitungen zum Schiffbau und einer barocken „Atomtheorie“ verquickt, ist ein Lager mit sechs flachen Zelten zu sehen, über denen drei Zeppeline kreisen. Später werden Schatten sichtbar, lautstark hämmernd. Unterdrückung, Forschung, der Schiffbau als Materialisierung der Freiheit lassen sich da assoziieren. Eine Nonne steht vor einer Reihe von Bänken und besingt ihre spirituelle Vereinigung mit Gott als extrem sinnliches Erlebnis. Am Ende lassen Goebbels und sein Bühnenbildner Klaus Grünberg eine Schafherde unter einem Zeppelin äsen und gruppieren Marie Curie mit Wissenschaftlern wie zu Standfotos – von der fotografisch stillgestellten Zeit, der Halbwertzeit von Radioaktivität bis zum Verhältnis Gruppe und Individuum beziehungsweise Atom und Zerfall ist vieles denkbar. Es ist die interpretatorische Freiheit, die Andriessens rhythmischer, polytonaler Musik breiten Raum lässt – den das Ensemble Modern Orchestra unter Peter Rundel kongenial nutzt.Es wäre eine Untersuchung wert, wie sich das Inhaltsverzeichnis in den Programmheften der Ruhrtriennale seit ihrer ersten Ausgabe 2002 verändert hat. Der Begriff Schauspiel ist immer weiter nach hinten gerückt und bei Goebbels komplett verschwunden; das Musiktheater steht inzwischen an erster Stelle, die bildende Kunst kämpft mit dem Tanz um Platz zwei. Sicher, Choreografen wie Anne Teresa De Keersmaeker, Mathilde Monnier oder Boris Charmatz, die Goebbels regelmäßig ins Programm hebt, sind keine echte Entdeckung. Doch der Intendant bekräftigt damit den Rang des Tanzes und verortet die Ruhrtriennale auch deutlicher als Festival, das Eigenständiges hervorbringt, anstatt nur Abspielstätte für eingeladene Produktionen zu sein.Heiner Goebbels hat, dieses Fazit lässt sich schon nach dem Auftaktwochenende ziehen, das Profil der Ruhrtriennale als Gegengewicht zum konventionellen Stadttheater erheblich geschärft. Werke von Andriessen oder Partch sind im derzeitigen Abonnementbetrieb kaum vorstellbar. Auch Castelluccis Installation auf der Grenze zwischen Tanz, Bildender Kunst und Performance nicht. Wie keiner seiner Vorgänger hat Heiner Goebbels die ästhetischen Möglichkeiten des Festivals ausgeschritten und mit Schlagwörtern wie „spartenübergreifend“ oder „performativ“ wirklich Ernst gemacht. Bestimmt die prägendste Intendanz seit der Gründung der Ruhrtriennale durch Gerard Mortier.