Alle Jahre wieder versuchen die Theater ihre Spielzeit unter ein Motto zu stellen. Mal geht es um den "Glauben", dann wird nach "Helden" gefragt, doch oft wirkt der herbeigeredete Zeitgeist eher wie ein verkaufsträchtiges Label als der Wirklichkeit abgelauscht. Bei der Ruhrtriennale ist das anders. Seit Jürgen Flimm im vergangenen Jahr das Festival als Kurator für drei Jahre übernahm, wurden die Leitthemen schärfer gefasst. Suchte man in der ersten Saison noch nach Entsprechungen zwischen Romantik und Industriekultur, so nahm man diesmal das Barockzeitalter in den Blick. Das wirkt nur auf den ersten Blick merkwürdig. Gerade das 17. Jahrhundert mit seinen politischen Umbrüchen und Glaubenskriegen, seiner Zerrissenheit zwischen Heilserwartung und praller Diesseitigkeit, glänzendem Schein und Kult der Vergänglichkeit scheint sich der Gegenwart als historische Parallele anzubieten.
In der Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck, fand mit Calderóns Das Leben ein Traum die Eröffnung statt. Regisseur Johann Simons und sein NT Theater aus Gent machten aus dem Paradestück des "siglo d´oro" zunächst eine Hofsatire. Ein paar Stühle, ein eingefriedetes kleines Orchester und ein riesiger über ein Gleis geworfener Wohnzimmerteppich markieren den Palast. König Basilius, der seinen Sohn Sigismund wegen eines bedrohlichen Orakels gefangen hält, entpuppt sich als monarchisches Weichei in Jugendherbergsdecken. In einer Art Springprozession verkündet er seinen politischen Willen: sein Sohn soll auf Probe herrschen. Die ironische Dosis erhält erst mit dem Auftritt Sigismunds (Aus Greidanus jr.) ihr Gegengewicht. Erscheint er zunächst als Schmerzensmann und dressiertes Tier, so bricht bald der brutale Diktator aus ihm hervor: Sigismund mordet und vergewaltigt wie prophezeit - und wird wieder weggesperrt. Das Leben als schlechter Traum.
Calderóns Frage, wie sittlichen Handeln im Diesseits möglich ist, wenn das wahre Sein erst im Jenseits beginnt, wird von Johann Simons säkularisiert zum Problem eines utopischen Handelns im Hier und Jetzt. Der Befund fällt düster aus: Der Volksaufstand, der Sigismund befreit, verdichtet sich zu einer Helge Schneider-Figur mit Sombrero und Rebellenpose. In einem Willensakt lässt der neue Herrscher seinen Befreier verhaften und ruft sich zum gerechteren König aus. Aus Calderóns Gewissheit wird bei Simons jedoch ein Fragezeichen. Am Ende kleidet sich Sigismund in den Jugendherbergshermelin und ruft angstvoll in den sich eindunkelnden Raum: "Mama, was tu ich bloß mit dieser Welt?"
Seit Jürgen Flimm die Ruhrtriennale übernommen hat, wurde die schon von Vorgänger Gérard Mortier eingeführte Kreationen-Reihe immer wichtiger. Ihr bewusst unscharfer Titel steht für Projekte, bei denen Künstlerpersönlichkeiten aus unterschiedlichen Sparten zusammengebracht werden - mit offenem Ausgang. Dass Erfolg und Risiko nah beieinander liegen, zeigten bereits im vergangenen Jahr Andrea Breth und Christian Boltanski, die nur mit erheblichen Verstimmungen die fulminanten Nächte unter Tage realisierten. In diesem Jahr kam es zum Eklat, als die Schauspielerin Veronica Ferres sich weigerte, die ihr von Wilhelm Genazino auf den Leib geschriebene Hauptrolle in der Grimmelshausen-Adaption Courasche oder Gott lass nach zu spielen. Vorwürfe gingen hin und her und das Projekt wurde komplett auf die nächste Spielzeit verschoben.
Eine erfolgreiche Kooperation führten der Schriftsteller Péter Esterházy und die Musiker des Ensembles Musica Antiqua Köln vor - wenn auch mit wenig überzeugendem Ergebnis. Esterházy, Autor des vielgelobten Romans Harmonia Caelestis, widmet sich in seinem Stück Rubens oder das nichteuklidische Weib am Beispiel des Malerfürsten den Fragen der ästhetischer Produktion. Im ersten Teil konfrontiert es Rubens (Hans-Michael Rehberg) mit seinem kritischen Sohn Albert (Torsten Ranft). Analog zur barocken Ambivalenz praller Diesseitigkeit und Vanitas fordert Albert vom Genie Leiden und Transzendenz ein, was der Vater sehr einfach kontert: "Mein Sohn, sage er mir etwas Ernsteres wie einen Weiberarsch."
Diese Diesseitigkeit wird von Regisseur Philipp Stölzl konkret ins Bild gerückt. In die Bühnenwand der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord sind Bilderrahmen eingelassen, die leibhaftig nachgestellte Rubensbilder wie Urteil des Paris oder Der trunkene Silen zeigen. Während die ´Dargestellten´ ihren Schöpfer verspotten, meldet sich der videoanimierte Kopf der Medusa zu Wort. Und über allem schwebt die so barocke wie gegenwärtige Frage, wo die Grenzen zwischen Bild, Schein und Realität verlaufen.
Das barocke Spiel wird aufgenommen vom Ensemble Musica Antiqua Köln, das den Abend mit gestenreicher und zitatfreudiger Musik des 17. Jahrhunderts untermalt. Im zweiten Teil kommt es zur Begegnung von Rubens mit dem Mathematiker Kurt Gödel (Christoph Bantzer mit emphatischer Pedanterie) und damit zur Konfrontation von ästhetischem Demiurgenanspruch und der These von der Unvollständigkeit aller menschlichen Systeme. So intelligent dies alles sein mag, es bleibt eine, wenn auch anspruchsvolle Gedankenspielerei. Theatralisch sinnfällig wird der Konflikt nicht. Der Schluss ist dann Ironie. Eine dralle Schöne bringt den rätselhaften Begriff vom "nichteuklidische Weib" auf einen simplen Nenner: "Frauen sind nicht eckig." Um das zu erkennen, gibt es direktere Wege - das wusste schon Rubens.
Mit ähnlich weitem Themenspektrum wie die Kreationen wartet auch die Interventionen-Reihe auf. Unter dem Titel Guantánamo! präsentierte sie ein Programm, bei dem zunächst Künstler wie Vanessa Redgrave, David Moss, Stefan Kurt oder Jürgen Flimm die Artikel der UN-Menschenrechtskonvention in einer eindrücklich-sparsamen Inszenierung (Regie: Maria Kross) vortrugen. Danach folgte die Verlesung eines erschütternden Berichts ehemaliger Guantánamo-Häftlinge über ihre Zeit im Lager sowie Gespräche mit der Mutter und dem Anwalt von Murat Kurnaz. Zum Abschluss diskutierten Heribert Prantl, Oskar Negt, Melinda Crane, KlausHaprecht und Jonathan Meese über den Kriegsbegriff des "war against terror", das Freiheitsbewusstsein der Deutschen und antiaufklärerische Tendenzen der Gegenwart. Es war dann Vanessa Redgrave, die mit einem an Zola erinnernden "We cannot accept!" die Veranstaltung auf den Punkt brachte.
Ohne Übertreibung könnte man sagen, dass der Verstand, der die psychologische Folter in Guantánamo plante, derselbe ist, der in Choderlos de Laclos´ 1782 erschienenem Briefroman Gefährliche Liebschaften Liebe, Mitleid und Moral gnadenlos einem aufgeklärten Kalkül unterwirft. Stefan Kimmigs Inszenierung, die sich auf Dramatisierungen von Heiner Müller und Christopher Hampton stützt, überträgt diese spätabsolutistische Versuchanordnung ins Heute einer allwissenden Freizeitgesellschaft. Aus der Marquise de Merteuil (Maren Eggert) und dem Vicomte de Valmont (Felix Knopp) wird ein zeitgenössisches Paar an der Endstation Beziehungslangeweile. Was beiden bleibt, ist die Intrige als stimulierendes Spiel. Merteuil möchte, dass Valmont die künftige Frau ihres Exgeliebten, die 15-jährige Cécile, entjungert; er wiederum hat es auf die tugendhafte Madame de Tourvel abgesehen.
Kimmig stellt die Figuren auf Katja Haß´ nackter Kachelbühne gnadenlos aus. Cécile (Lisa Hagmeister als lustvoll-neugieriges Girlie) wird von Valmont brutal missbraucht, so wie Merteuil sich den naiven Danceny (Christoph Rinke) zum sexuellen Spieltier abrichtet. Als der blasiert posierende Valmont sich dann in Madame de Tourvel (wunderbar: Susanne Wolf) wirklich verliebt, ruft ihn seine eigentliche Gespielin mit einem eifersüchtigen "Banal!" zur Intrigenordnung. Der Verführer trennt sich gegen sein Gefühl von der Tourvel. Wie Susanne Wolf diese Liebesverbrennungen höchsten Grades vorführt, wie sie sich krümmt, mit gellendem Schrei und einem Blick schrecklicher Verblüffung hochfährt, dann die Stelle, an der zuvor Valmont stand, aus dem Boden zu reißen versucht - das ist atemberaubend.
Es bleibt aber der einzige bewegende Moment an diesem Abend. Kimmigs Protagonisten inszenieren - anders als im Original - ihre Verhaltenslehren der Kälte ohne jede Lust am Bösen. Darüber löst sich die Intrige und die Inszenierung immer mehr in Einzelbilder der Gewalt auf. Am Ende ist der Erkenntnisgewinn höher als der Unterhaltungswert. Doch auch wenn diese wie auch andere Produktionen die Erwartung nicht erfüllt haben, allein der Wille zum Wagnis hebt der Ruhrtriennale über die gängige Stadttheaterpraxis hinaus und macht sie unentbehrlich.
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