Als Sporthistorisches Dokument hängt grobkörnig vergrößert, gerahmt wie ein Bild, in der Empfangshalle des Dortmunder Hotels Königshof eine Eintragung von 1910: 4. Bezirk: Dortmund; Leichtathl. Abt. des B.V. Borussia. Mitgliederzahl 35. Wettspielkleidung?
"Noch unbekannt", hätte dort stehen müssen. Inzwischen sind die Dortmunder Farben Schwarz und Gelb ein Begriff für Erfolg und Kommerz. Der aus dem Ausland stammende Beschäftigte an der Rezeption lächelt, wenn Gäste intensiv lesen. Neun Jahrzehnte nach dieser eher unscheinbaren Registrierung schrieb die Recklinghäuser Zeitung am 27. November 2000: "BVB-Fußball-Konzern startet in eine neue Ära" Diesen Wandel zum Geschäftssinn lobte Bundeskanzler Gerhard Schröder, Borussia verbinde Fortschritt und Tradition. Borussia Dortmund als umsatzstarkes Unternehmen mit vielen Angestellten ging als erster Club in Deutschland an die Börse. Als im Jahr 1999 die wütenden Dortmunder Fans "Scheiß-Millionäre" von den Rängen des heimischen Stadions skandierten, war dies wohl der letzte Klassenkampf, nicht nur im 20. Jahrhundert.
In der einstigen Kohle-, Bier- und Stahlstadt schwindet die Tradition auch optisch. Zwar fährt noch eine Straßenbahn zur Westfalenhütte - doch im Laufe des Jahres wird dort Stahl oder Eisen nicht mehr geschmolzen. Wer früher den Hauptbahnhof in Richtung Einkaufsmeile Westenhellweg verließ, passierte das naturalistisch gegossene Denkmal eines Stahlarbeiters - der beeindruckende eiserne Muskelmann ist weg. Das Wahrzeichen des Malochers ist in der Nähe des Nordausgangs, ein Bereich mit auffällig vielen Prostituierten, verschämt versteckt worden, entsorgt. Vielleicht wird es in zehn Jahren sogar eingeschmolzen.
Bunte Prospektwelt im Gewerkschaftshaus
In die Rostbratwurst kann der Hungrige nur noch am Bahnhof beißen. Der Eilige isst eher asiatisch in der mit gläsernen Kaufhäusern gestalteten City, oder Pizza, vegetarisch, statt Brötchen gibt es Baguettes mit Mozzarella oder Crépes mit französischer Marmelade. Aus Eckläden kann der Kunde sehr preiswert in exotische Länder telefonieren. Gebe es nicht den oft zu laut gesprochenen Slang des gestandenen Ruhrgebietlers bei C, Saturn oder Woolworth, hätte Dortmund hier durchaus das Flair von Manhattan. Auch kommt auf mindestens 50 Meter ein Bettler. So häufig sind sie in New York nicht.
Am Rande dieser pulsierenden Verkaufszone liegt am Ostwall das Gewerkschaftshaus. Für den Kenner sind auch dort Veränderungen zu registrieren. Vor 20 Jahren waren noch mehrere Buchhändler in dem Geschäft der Büchergilde Gutenberg tätig. Allein von den Bestellungen des Stahlwerks Hoesch hätte der Bücherclub damals leben können. Heute ist in dem Laden nur ein Verkäufer zu sehen. Die DGB Reisen in der Eingangsetage sind gut besucht. Seit 40 Jahren sind sie - im Gegensatz zum Kulturgeschäft Büchergilde - wirtschaftlich gesund. Überhaupt: Nicht die Plakate der Gewerkschaften sind im Verbandshaus augenfällig, es überwiegt die bunte Prospektwelt über ferne Länder.
Noch sind viele Gewerkschaften in dem Haus mit Geschäftsstellen vertreten. Aber der DGB-Kreis ist bis auf wenige Büros am Ende eines langen Ganges geschrumpft. Und das, obwohl sich das Arbeitsgebiet des Kreisvorsitzenden Ede Weber räumlich beachtlich erweitert hat, inzwischen er ist auch für die Bereiche des Kreises Unna - mit der Industriestadt Lünen - und Hamm zuständig. Weber erklärt den dramatischen Einbruch bei den Gewerkschaften Dortmunds durch den Strukturwandel. Wo einmal der Dortmunder Dreiklang herrschte - Stahl, Bier und Kohle -, sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten die industriellen Arbeitsplätze halbiert worden. Zwischen 1980 und 1998 verlor der Bergbau 44 Prozent an Arbeitsplätzen, in den Brauereien waren es 52, im Baugewerbe 41 Prozent. Die einst dominierende Montan-Industrie bezeichnet Weber als "rudimentär": 70 Prozent der Arbeitsplätze wurden abgebaut. Und wie dem Dreiklang erging es auch den Gewerkschaften des Dortmunder DGB. Sie verloren in den Neunzigern etwa 30 Prozent ihrer Mitglieder. "Was aber genau so schlimm ist", gibt Weber seinem düsteren Gemälde noch mehr dunkle Farben, "bei der IG Metall zahlen über 50 Prozent keine vollen Beiträge mehr".Und mit besonderer Betonung, dabei hebt Weber gern den Zeigefinger, berichtet der Besorgte: "Bei einer Konferenz der IG BAU stellte ich fest, dass mehr als die Hälfte der Anwesenden nicht mehr im aktiven Arbeitsleben standen. Und dies war keine Seniorenveranstaltung."
Industrieruinen entlang der Eisenbahn
Seit Jahren warnt er im Kreisvorstand des DGB vor dem allmählichen Niedergang der Gewerkschaftsbewegung: In 20 Jahren seien sie auf den Einfluss von Schrebergärtnern geschmolzen. "Intellektueller" wurde er daraufhin genannt, was negativ gemeint war. Oder, und das wurmte ihn, "Prophet des Untergangs". Weber: "Die Gewerkschaftssekretäre haben überwiegend keinen Zugang zur Arbeitswelt und Lebenskultur der meist jungen Beschäftigten in den neuen Branchen - und ich nehme mich da nicht aus."
Noch fährt die Bahn aus dem Norden vorbei an Fabrikhallen, in denen aber kaum noch Arbeiter zu sehen sind, nur das riesige U ist auf dem Dach der einst prächtigen Union-Brauerei. Noch heißt es hämisch in den Kneipen: "Vater und Sohn trinken Union, nur der eine Flegel, der trinkt Schlegel."Aber das sind erinnerungsselige Rückblicke. Heute heißt die Firma Brau und Brunnen und besitzt viele Brauereien in Deutschland. In Richtung Ruhrgebiet verläuft die Bahnstrecke an dem Werksgelände der einstigen Dortmunder Hütten-Union. Die seit Jahren halb abgerissene Halle gleicht dem Skelett eines Dinos. Heute nehm wir Abschied vonne Maloche/ Wir sind ganz betroffen, die ganze Mischpoche, heißt es in dem Stahlwerker-Blues von Helmut Neukirch, dem ehemaliger Dortmunder DGB-Vorsitzenden.
Die einstige verrußte Industriegemeinde entwickelt sich als Stadt der Informations- und Kommunkationstechnologie, der Medien, der Mikrosystemtechnik, auch der Logistik. Schon früh wurde ein Technologiepark gebaut. Hier liegt eine der Schaltzentralen des Internets in Deutschland. Es ist der Dortmunder Sitz der US-Firma UUNET, eine der größten Netzwerk-Betreiber der Erde: Wer www.deutsche-bank-24.de anklickt, landet in Dortmund. Alle Bestellungen bei www.buecher.de laufen in Dortmund ein. Auch Greenpeace hat seine Webseiten in Dortmund gespeichert. Würden die Informationen, die täglich über Dortmund laufen, auf Schreibmaschinenseiten ausgedruckt und gestapelt, wäre der Berg fünf Millionen Kilometer hoch.
Die Bronx von Dortmund heißt Eving
In der Stadt des Weltpokalsiegers im Fußball liegt eine Potenzanalyse namens Softwarestandort Dortmund vor und eine mit dem Titel Dortmunder Call Center. Der Sitz des kommerziellen Landessenders tv.nrw 1 als Konkurrenz zum WDR in Köln soll Dortmund sein. "In allen diesen Bereichen werden Arbeitsplätze geschaffen", sagt der DGB-Vorsitzende Weber. "In den neuen Branchen boomt es, in den eher traditionellen findet ein massiver Arbeitsplatzverlust statt. Der Zuwachs an Beschäftigten geht an uns vorbei. Ich erlebe die Sekretäre der Gewerkschaften oftmals ratlos."
Im Dortmunder Stadtteil Eving ist der Umbruch mit seinen sozialen Schräglagen sichtbar. Der imponierende Hammerkopf-Turm des ehemaligen Bergwerks Minister Stein überragt noch den Vorort - ein Industriedenkmal: Entgegen sonstiger Praxis war die wuchtige Fördermaschine auf die Spitze des stählernen Förderturmes gebaut worden. Die Zeche wurde 1987 als letzter Pütt der Stadt geschlossen. In der ehemaligen Lohnhalle arbeiten heute die Beschäftigten der Sozialforschungsstelle sfs, viele von ihnen mit Zeitverträgen. Die waren vor zehn Jahren in Eving noch unbekannt - Pütt, Hütte oder Brauerei galten als Lebensstellung.
Chiptechnologen statt Stahlwerker
In dem früheren Verwaltungsgebäude von Minister Stein befindet sich ein Einkaufszentrum mit Schnäppchen und sehr preiswerten Angeboten. Den Käufern hier ist anzusehen, dass sie jede Ausgabe sorgfältig prüfen. Bei vielen ist die Kleidung seit Jahren getragen. In der einstigen Bergmannskneipe dem früheren Werktor gegenüber verkehren nur noch Rentner, die im Revier Invaliden genannt werden. Sie reden von besseren Zeiten. Als im Tor des TuS Eving-Lindenhorst noch "Fipps" Schulte den Kasten sauber hielt. Der war Keeper in der Amateur-Nationalmannschaft. Das liegt aber auch schon 40 Jahre zurück. Gebrauchtwarenhändler säumen die Straße. Ein Kino mit dem kargen Flair der fünfziger Jahre verfällt. Für das Fitness-Studio wird ein Nachmieter gesucht. Das ist die Bronx von Dortmund.
Worauf die Bahn setzte, darauf wollte Dortmund nicht verzichten: Die Kommune beauftragte zusammen mit ThyssenKrupp die Unternehmensberatung McKinsey mit den Arbeiten zu einem "dortmund-project". Die Aussichten sind gesehen auf das Jahr 2010 offenbar günstig: Aus der einst von Schwerindustrie geprägten westfälischen Metropole werde "eine führende E-Commerce-Stadt in Europa". Dortmund soll in neun Jahren boomen wie 1970. Damals gab es Vollbeschäftigung, einen hohen Organisationsgrad unter den Arbeitern im Dreiklang und deshalb einflussreiche und starke Gewerkschaften. Dem Verlust von seitdem 80.000 Stellen steht bisher nur ein Zugewinn von 28.000 gegenüber. Aber der steigt und steigt. Es werden, so McKinsey, auch Arbeitsplätze im Bereich Service und beim Handwerk, wie zum Beispiel Bau, im Sog des technischen Booms folgen. Mit 6.400 rechnen die Analysten in den kommen neun Jahren. Wenn die Rechnung aufgeht, steht Dortmund 40 Jahre nach der Vollbeschäftigung von 1970 im Jahr 2010 wieder dort, aber mit einer total veränderten Arbeitsstruktur. Dann ohne starke Gewerkschaften? So sieht es aus. Mit dem Einfluss der Schrebergärtner? "Wenn nicht innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre grundsätzlich umgesteuert wird", sagt ein frustrierter Ede Weber. Der einstige Vorsitzende Helmut Neukirch besucht noch immer regelmäßig seine Stadtteilgruppe der IG Metall. Die zehn bis 14 Rentner meckern laut Neukirch meist "über die Gesellschaftsordnung". Wenn dort ein Gewerkschaftssekretär einmal im Jahr über die "berechtigten" Tarifforderungen spricht, schwänzt er die Versammlung.
Trotz des dramatischen Wandels werden die Dortmunder in der Gegenwart noch oft an die industrielle Vergangenheit ihrer Region erinnert. Im Bahnhof heißt es über Lautsprecher: "Auf Grund von Bergbauschäden ist die S-Bahnlinie S5 zwischen Hauptbahnhof und Barop bis auf weiteres gesperrt."
Der ehemalige Bergmann Hans Dieter Baroth lebt heute als Schriftsteller in Berlin. Bekannt wurde er mit seinen Ruhrgebiets-Romanen Aber es waren schöne Zeiten und Streuselkuchen in Ickern, außerdem schrieb er die Geschichten einst bedeutender Revierclubs auf: Jungens, euch gehört der Himmel. Für Mann ohne Namen erhielt er 1992 den Literaturpreis Ruhrgebiet.
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