Kein Kniefall, auch nicht vor gekrönten Häuptern

Sportplatz Kolumne

Vom DFB wird der 43-malige Nationalspieler Horst Szymaniak geschnitten. Einladungen des Verbandes bekommt er nicht. Dabei sollte der Mann mit den langen Pässen und der Grätsche einmal ein führender deutscher Fußballer werden. Sepp Herberger sah ihn als Nachfolger von Fritz Walter, doch mit Helmut Schön kam das Ende für den hochbegabten Fußballer. Am 29. August 1934 wurde Horst Szymaniak in der kleinsten Stadt des Ruhrgebietes geboren. Seinen 70. Geburtstag feiert er mit einigen Mitspielern in Melle/Niedersachsen. Irgendwelche Ehrungen sind für den Abgestürzten nicht geplant.

Horst Szymaniak, Arbeiterkind und gelernter Bergmann, hatte zunächst einen glänzenden Aufstieg. Schon als Schüler fiel er auf den Erkenschwicker Straßen als außergewöhnliches Talent auf. Ihn zu formen, insbesondere zu disziplinieren, war die Aufgabe seines Trainers Jule Ludorf, einer westdeutschen Fußballerlegende. Sein erstes Geld neben seinem Bergmannslohn verdiente Horst Szymaniak als Vertragsspieler. Für 185 Mark kickte er in der II. Liga West für Erkenschwick. Mit einem Posten als Bademeister bei der Stadt und höheren Bezügen als Vertragsspieler lockte ihn der Wuppertaler SV ins Bergische. Die Ablösesumme betrug 15.000 Mark. Er wurde vom neuen Verein bei "Ersatzeltern" untergebracht, die den Straßenfußballer umsorgten. "Die brachten mir erst richtige Essmanieren bei", erinnert sich Horst Szymaniak. Seine Begabung, sehr lange Pässe zielgenau über das Feld zu schlagen, fiel überregional auf. Wie in der englischen Liga grätschte er breitbeinig dem Angreifer entgegen oder kam schräg von hinten.

Der typische Straßenfußballer aus dem Ruhrgebiet wurde Nationalspieler. Sepp Herberger baute auf ihn. Er schrieb ihm Karten und Briefe, gab schriftliche Anweisungen. Eine lautete, er müsse international so spielen, dass bei seinen Einsätzen der Schiedsrichter die Pfeife zum Mund führe, dann aber inne halte und meine: So schlimm war es doch nicht!

Horst Szymaniak gehört zu den Auslandspionieren der Bundesliga. Nach Erkenschwick, Wuppertal und Karlsruhe folgten: SC Catania, Inter Mailand, Varese, Tasmania Berlin, FC Biel und St. Louis Stars Chicago. Szymaniak - früher "Schorse" und in der Nationalelf "Schimi" gerufen - spielte 43 Mal für Deutschland, er nahm an zwei Weltmeisterschaften teil und schoss als Mittelfeldspieler zwei Tore.

Herbergers Nachfolger im Traineramt wurde Helmut Schön, doch die Chemie zwischen dem Dresdner Trainer und dem Proletarier aus dem Revier stimmte nicht. Helmut Schön beendete Szymaniaks Karriere. Es war in Augsburg, nach einem B-Länderspiel gegen die Schweiz. Helmut Haller überredete seinen Mannschaftskameraden aus dem Ruhrgebiet zu einer nächtlichen Tour durch die Kneipen. Gegen fünf Uhr in der Frühe kamen sie zurück. Helmut Haller wurde nicht erwischt, doch Szymaniak. Der Bundestrainer schrieb dem Mann mit der Grätsche, "wegen dieses Vorfalls und anderer Ereignisse" werde er nicht mehr für den DFB international spielen. Funktionäre des Deutschen Fußball-Bundes behandelten Szymaniak wie einen Ausgestoßenen, er wurde nie mehr zu einer Veranstaltung eingeladen, nicht zu runden Geburtstagen seiner Teamkollegen oder zu Jubiläen des Fußball-Dachverbandes.

"Reich geworden ist der Schorse nicht", heißt es in einer Chronik seines ersten Vereins, "in Melle arbeitete er in einer Kunststofffirma. Dann fuhr er britische Schulkinder in Osnabrück. Führerscheinentzug auf zweieinhalb Jahre, Scheidung, Arbeitslosigkeit, das waren die Tiefpunkte in den vergangenen Jahren." Horst Szymaniak war überrascht, dass sein Rentenbescheid von der Bundesknappschaft kam. Wegen der sieben Jahre im Bergbau blieb sie federführend. Er habe viel verdient, aber auch viel ausgegeben. "Ich habe mein Leben genossen", sagt er ehemaligen Mitspielern seines ersten Vereins.

Über Szymaniaks vermeintliche Unbildung sind viele böse Gerüchte im Umlauf. Er habe in Karlsruhe statt einer Beteiligung von einem Viertel an einem Haus ein Fünftel haben wollen, das sei mehr. Sein inzwischen 85-jähriger erster Trainer Jule Ludorf hält dagegen: "Es wird oft behauptet, der Schorse sei dumm, das stimmt nicht. Der war lediglich gleichgültig - der Fußball war sein Leben. Er war nicht gebildet, aber keineswegs dumm."

Nach der Begrüßung durch den schwedischen König bei der Weltmeisterschaft 1958 soll er gesagt haben: "Das kenne ich vom Schützenfest in Erkenschwick." Ein Autor hatte diese Geschichte ungeprüft verbreitet, in vielen Artikeln wurde sie wiederholt. Tatsächlich sah Szymaniak den Monarchen beim Handschlag in die Augen und rechtfertigte das vor Sepp Herberger mit dem Bergmannsspruch: "Kein Kniefall, auch nicht vor gekrönten Häuptern."

Der vom DFB vergessene oder gemiedene Fußballer entstammt der gleichen Generation wie Otto Rehhagel. Berlins ehemaliger Wissenschaftssenator George Turner kritisierte im Tagesspiegel, dass über den Erfolgstrainer der Griechen oft mit Dünkel geschrieben werde, er war Anstreicher. In der Generation von Horst Szymaniak und Otto Rehhagel erreichten nur fünf Prozent die Berechtigung zum Studium. Da konnte bei Arbeiterkindern mit Promillen gerechnet werden. Dank der Änderung des Schulsystems erreichen in der Gegenwart 38 Prozent die Hochschulreife. Zu ihren Zeiten war ein gesellschaftlicher Aufstieg fast nur über den Sport möglich. Franz Beckenbauer verdankt seinen Aufstieg einem cleveren Finanzberater. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) brachte es auf den Punkt: "Die Szymaniaks, Tilkowskis, Szepans und Burdenskis wurden nicht gefragt, wo sie herkommen, sie mussten gut kicken können."

Hans Dieter Baroth lebt als Roman- und Sachbuchautor in Berlin. Wie der Fußballer begann auch er seine berufliche Laufbahn im Bergbau, und er stammt aus der selben Stadt wie Horst Szymaniak.


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