Atomkrieg: Wladimir Putin dominiert die Eskalationsspirale

Ukraine-Krieg Wer in Deutschland auf einen vollständigen Sieg über Russland spielt, muss sich vier unangenehmer Umstände bewusst sein
Ausgabe 19/2022
Wladimir Putin auf dem Weg zur Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau (09.05.2022)
Wladimir Putin auf dem Weg zur Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau (09.05.2022)

Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images

Lauter werden in Deutschland die Forderungen nach einem Sieg über Wladimir Putins Russland. Dabei soll Deutschland auf keinen Fall Kriegspartei werden, andererseits sollen die Ukrainer mit westlicher Unterstützung bis zum Sieg kämpfen. Das könnte lange dauern und die Deutschen müssten dafür, wie Wirtschaftsminister Robert Habeck sagt, „den Gürtel etwas enger schnallen“, weltweite Verwerfungen wie Hungersnöte erscheinen zudem als hinzunehmender Preis. Ein Kompromissfrieden mit Putin dagegen, der als verrückt, grausam oder unglaubwürdig dargestellt wird, ist aus dieser Perspektive unmöglich. Tatsächlich aber führt, wie auch immer sich die Lage in der Ukraine entwickelt, an Putin kein Weg vorbei, soll der Krieg beigelegt und durch rationale Politik das Schlimmste verhindert werden.

Das Schlimmste wäre eine nukleare Eskalation. Sie wäre ein schrecklicher Tabubruch und hätte weitgehende Folgen für Menschen, Umwelt und Politik, weit über die Ukraine hinaus. Putin drohe ja nur damit, beruhigen gerade diejenigen, die ihm sonst alles Schlechte zutrauen. Man müsse die Nerven bewahren und auf die Wirkung der nuklearen Abschreckung setzen, raten andere – auch solche, die früher gegen die Abschreckungslogik waren.

Keiner kann wissen, wo für Putin die rote Linie verläuft, deren Überschreiten ihn zur nuklearen Eskalation veranlassen könnte. Legt man die gültige Nukleardoktrin als Maßstab zugrunde, dann haben diese Waffen den Zweck, den Ausbruch eines nuklearen oder konventionellen Konflikts zu verhindern oder im Falle eines die Existenz des russischen Staats gefährdenden konventionellen Angriffs zum Einsatz zu kommen. Experten deuten die aktuellen nuklearen Drohungen als Botschaft gegen eine militärische Einmischung in den Konflikt.

Existenzielle Gefahr für Europa

Wie die USA nimmt Russland für sich das Recht für einen Ersteinsatz in Anspruch. Und wie in den USA entscheidet darüber alleine der Präsident. In der Theorie soll mit einem Atomwaffeneinsatz ein Vorrücken des Gegners gestoppt oder das Kräfteverhältnis zum eigenen Vorteil verändert werden. Der russische Präsident ist zwar unzweifelhaft der Aggressor, doch seine Sicht ist eine andere: Er verteidigt in der Ukraine Russen. Sollte er Teile der Ukraine annektieren, könnte er Versuche zur Rückeroberung als Angriff umdeuten.

Durch diese Verdrehung der Tatsachen wird seine Lesart natürlich nicht akzeptabel. Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung und darf dabei von außen militärisch unterstützt werden. Der Gedanke, dass eine Nuklearmacht unter dem Schutz von Massenvernichtungswaffen ein Land überfällt und beherrscht, ohne internationale Gegenwehr, ist unerträglich. Die Frage ist nur: Wie weit sollte diese Unterstützung gehen und was soll sie bewirken?

Unter der Prämisse, dass die USA nicht direkte Kriegspartei werden wollen, hat Russland die Eskalationsdominanz. Erstens ist es militärisch stark genug, weiter zu eskalieren. Zweitens operiert es in seiner geografischen Nachbarschaft, während die USA das militärische Gerät aus der Ferne heranschaffen müssen. Drittens ist Putin ruchlos genug, den Tanz auf dem Vulkan zu wagen. Viertens begünstigt das autoritäre System seine politische Handlungsfähigkeit.

Wer im Ukraine-Krieg auf die simple Alternative Sieg oder Niederlage setzt, verkennt die damit verbundene existenzielle Gefahr für Europa oder geht sie bewusst ein. Das eine ist ignorant, das andere verantwortungslos. Jürgen Habermas hat zu Recht darauf hingewiesen, „dass Kriege gegen eine Atommacht nicht mehr im herkömmlichen Sinne ‚gewonnen‘ werden können“. Darum muss das Ziel sein, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert. Wenn es richtig ist, dass Russland die Eskalationsdominanz hat, dann ist, ob man es mag oder nicht, sein Präsident Teil der Lösung, die mit einem Waffenstillstand beginnen müsste. Dieser dürfte allerdings erst möglich sein, wenn beide Gegner erkennen, dass sich eine Fortsetzung des Krieges nicht mehr lohnt.

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