Sollte es zu einer nuklearen Eskalation kommen, wäre Russland dem Westen überlegen
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Im Oktober 1981 protestierten etwa 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung von amerikanischen Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Westeuropa. Ihr Widerstand richtete sich gegen den nuklearen Rüstungswettlauf zwischen der NATO wie der Sowjetunion und die damit verbundene Abschreckungslogik. Sie war geeignet, das Risiko einer Vernichtung Europas in Kauf zu nehmen.
Gut vier Jahrzehnte danach finden keine Massenproteste gegen die erneut vorherrschende Kriegslogik statt. Die direkt Beteiligten und ihre westlichen Unterstützer auf ukrainischer Seite haben sich wohl wie nukleare Schlafwandler darin eingerichtet, während die Bevölkerung nichts mehr vom Krieg hören will. Dabei ist die nukleare Bedrohung größer denn je, wie das Ker
ie das Kernkraftwerk bei Saporischschja zeigt.So wie die Großmächte 1914 in die sogenannte „Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs“ (George F. Kennan) schlafwandelten, so verdrängen, negieren oder unterschätzen die Protagonisten der Konfrontation Westen versus Russland augenblicklich die Möglichkeit einer nuklearen Zuspitzung. Sie mögen nicht die Absicht hegen, thermonuklear zu eskalieren. Insofern scheint das Risiko eher gering zu sein. Andererseits verbeißen sich Russland und die Ukraine immer mehr ineinander, sodass die Verluste an Menschenleben, an Infrastruktur, Umwelt und militärischem Material stetig steigen.Vier Szenarien einer nuklearen EskalationDie erklärten Kriegsziele der Konfliktparteien bieten so lange keinen Raum für einen Kompromissfrieden, wie beide auf Sieg setzen. Russland will möglichst große Gebiete im Osten und Süden vereinnahmen und die Ukraine vom Schwarzen Meer verdrängen. Der verbleibende Rumpfstaat würde entweder ein gescheiterter Staat sein oder schwach und neutral, auf keinen Fall aber prädestiniert, Mitglied der NATO zu sein. Die USA wollen Russland so schwächen, dass es als Großmacht für lange Zeit ausfällt. Die Führung in Kiew erklärt, sie beabsichtige, die territoriale Integrität wiederherzustellen, dazu gehöre die annektierte Krim.Maximalziele dieser Art können zur nuklearen Eskalation verleiten. Erstens, wenn Russland den Krieg zu verlieren droht, zweitens, ihn unter günstigen Bedingungen zu gewinnen meint, und, drittens, die USA direkt eingreifen, sei es um einen Sieg der Ukraine zu beschleunigen oder deren Niederlage zu verhindern. Da Kriegsdynamiken unvorhersehbar sind, besteht viertens stets die Möglichkeit einer nicht beabsichtigten Eskalation durch menschliches Versagen.Moskau hat bereits mehrfach die nukleare Option rhetorisch gestreift. Es hat seine Kernwaffen modernisiert und verfügt über eine breite Palette an taktischen wie strategischen Fähigkeiten. Die neueste, propagandistisch hochgespielte Entwicklung ist eine manövrierfähige Hyperschallwaffe namens „Awangard“, die als Stratosphären-Gleitflugkörper mit mutmaßlich zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit nahezu unverwundbar sein soll. Eine flugzeuggestützte konventionelle Variante davon will Moskau bereits im Krieg eingesetzt haben, um ein unterirdisches Munitionslager zu zerstören. Die USA und China verfolgen ähnliche Projekte. Peking hat seine strategischen Nuklearsprengköpfe von 200 auf 350 aufgestockt und wird bis 2030 über 1.000 Sprengköpfe verfügen. Die USA, die nach Russland (6.000) über die zweitmeisten Sprengköpfe verfügen (5.500), räsonieren über eine neue Abschreckungsstrategie, die es mit zwei potenziellen, unterschiedlich ausgerüsteten Gegnern gleichzeitig aufnehmen kann.Trend geht zu Mini-NukesBesonders beunruhigend ist der Trend zu „Mini-Nukes“, auch Low-Yield-Waffen genannt. Deren geringere Sprengkraft schafft neue militärische Optionen. So verfügt etwa der amerikanische B61-12-Sprengkopf, der auch in Deutschland gelagert wird, über vier Stufen mit 0,3; 1,5; 10 und 50 Kilotonnen. Zur Erinnerung: Die über Hiroshima abgeworfene Atombombe, der 136.000 Menschen zum Opfer fielen, hatte eine Stärke von 13 Kilotonnen TNT. Wie viele Mini-Nukes Russland besitzt, ist nicht bekannt. Angenommen wird, dass seine Streitkräfte über das mit Abstand größte Arsenal taktischer Atomwaffen verfügen – etwa 2.000. Deren Strategie sieht einen Einsatz im Fall eines konventionellen Angriffs auf das eigene Territorium vor, wenn „der die Existenz des Staates bedroht“. Man kann davon ausgehen, annektiertes ukrainisches Gebiet wie die Krim steht auch unter dem Schutz russischer Kernwaffen.Der Westen ist zwar konventionell überlegen und könnte die Ukraine vielleicht noch lange mit Waffen beliefern, doch nuklear ist er verwundbarer als Russland. Das liegt weniger daran, dass Moskau über mehr taktische Atomwaffen verfügt, sondern daran, dass ein russischer Atomschlag gegen die Ukraine oder einen nicht-atomaren europäischen NATO-Staat von den USA nicht mit einem atomaren Gegenschlag auf russisches Territorium beantwortet werden könnte – es sei denn um das Risiko eines Gegenschlags auf US-Gebiet. Etwas, das Washington tunlichst vermeiden sollte. Da die USA aber – nicht zuletzt mit Blick auf China – ziemlich sicher kein Zauderer oder Verlierer sein wollen, würden sie wohl reagieren.Damit sie keinen Schaden nehmen, soll man Schlafwandler nicht aufwecken. Im Moment allerdings ist das zu ignorieren: Die politischen Schlafwandler in Moskau, Washington, Berlin, Brüssel und anderswo sollten aufgerüttelt werden, um zu verhindern, dass Menschen in ganz Europa in eine nicht mehr steuerbare Gefahr geraten. Deshalb muss die Zivilgesellschaft wie in den 1980ern in Deutschland und in anderen Ländern auf die Straße gehen. Wie damals sollten sich unterschiedliche soziale Bewegungen zusammenfinden. Was keineswegs bedeutet, die russische Aggression gutzuheißen und die Ukraine im Stich zu lassen, sondern zu verdeutlichen, dass es an der Zeit ist, den Konflikt einzufrieren und sich auf den langen, mühsamen Weg zu machen, ihn mit diplomatischen Mitteln zu lösen.
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