Wenn es um die Beendigung der größten militärischen Auseinandersetzung zwischen Staaten in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges geht, lautet das Kriegsziel derjenigen mit einem differenzierten Blick: „Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren.“ Selbstverständlich darf sich die russische Aggression für Moskau nicht lohnen, denn das wäre ein zweifelhaftes Paradigma und könnte Appetit auf mehr wecken. Daraus leiten nicht wenige im Westen ab, dass die Ukraine siegen muss. Sieg heißt für sie, dass alle russischen Truppen die Ukraine verlassen haben, die Russische Föderation Reparationen bezahlt und die politisch Verantwortlichen gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. So wünschenswert ein solches Ergebnis sein mag, mi
mit der machtpolitischen Realität hat es nichts zu tun. Nicht weil Russland unbesiegbar ist, sondern weil China kein Interesse an einer Moskauer Niederlage hat.Naiv oder ignorantDenn für Peking existieren zwei Albtraumszenarien, die infolge einer russischen Niederlage Realität werden könnten: ein destabilisiertes, möglicherweise auseinanderbrechendes Russland oder ein prowestliches Russland, in dem Wladimir Putin und seine Unterstützer die Macht verloren haben. Der erste Fall könnte negative Folgen für die Stabilität Chinas haben und für die Sicherheit der über 4.300 Kilometer langen Grenze mit Russland, deren Verlauf seit dem bilateralen Abkommen von 2004 vertraglich geregelt ist. Im zweiten Fall würden die USA gestärkt und ein Systemkonkurrent stünde direkt an Chinas Grenze. Peking dürfte also eine Entwicklung in diese Richtung zu verhindern suchen und Moskau so weit stützen, dass es in der Ukraine nicht verliert. Das bedeutet für die Vereinigten Staaten und den Westen, dass der Krieg entweder sehr lange dauern und ein Sieg extrem hohe Kosten verursachen wird oder wahrscheinlich sogar unmöglich sein dürfte.Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, dass Chinas als Friedensplan deklarierter Prinzipienkatalog vom 24. Februar 2023 auf so negative westliche Resonanz gestoßen ist. Natürlich ist Peking nicht so neutral, wie es sich offiziell gibt. Es ist allerdings auch nicht der enge Alliierte Moskaus, als der es in westlichen Medien oft dargestellt wird. Das binäre Framing der russisch-chinesischen Beziehungen gegenüber dem Westen als Ringen zwischen Autokratie und Demokratie ist allzu simpel, weil es neben den vorhandenen gemeinsamen Interessen die Unterschiede verkennt. Statt oberflächlich die vermeintlichen ideologischen Parallelen zu überhöhen, sollten diese Unterschiede zur Kenntnis genommen und Anknüpfungspunkte für gemeinsame Problemlösungen identifiziert werden.An erster Stelle ist die Haltung zur internationalen Ordnung zu nennen. Russland verhält sich der gegenüber destruktiv und revisionistisch, während China dieses Beziehungsgefüge zwar zu seinen Gunsten reformieren möchte, aber immer noch ein fester Bestandteil und Unterstützer dieser Ordnung ist. Sie erlaubt es noch am besten, als aufstiegswillige Macht die eigenen Interessen in einer globalisierten Welt zu verfolgen, wovon man bisher durchaus profitiert hat. Letztlich gibt es zwischen China und Russland signifikante Machtunterschiede. Während Moskau die Volksrepublik als Kraftverstärker braucht, um international Einfluss zu nehmen, kann Peking auch ohne Moskau seine weltpolitischen Ambitionen bedienen. Moskau ist militärisch auf dem absteigenden, China hingegen auf einem aufsteigenden Pfad. Der Eindruck verdichtet sich, dass die ökonomischen Unterschiede zwischen beiden enorm sind und weiterhin wachsen dürften.China profitiert zweifellos vom Ukrainekrieg. Es kauft billige Energie, erhält russische Hightech-Waffen, baut die Handelsbeziehungen aus und macht Moskau zunehmend von sich abhängig. Es braucht seinen Nachbarn jedoch auch als Gegengewicht zu den USA. Darum nimmt es bislang Nachteile in Kauf, die es künftig sorgsam abzuwägen gilt. Die negativen Auswirkungen des Krieges auf die Weltwirtschaft belasten auch China. Seine internationale Reputation hat wegen der Übernahme des Moskauer Narrativs gelitten. Sein Einsatz für den Erhalt einer internationalen Ordnung basierend auf den Prinzipien nationaler Souveränität und territorialer Integrität hat an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die globale Rolle der USA ist gestärkt worden und die Haltung der Europäer gegenüber Peking wesentlich kritischer als zuvor.China ist also einerseits strategischer Partner von Russland, wobei die Partnerschaft strikt am nationalen Interesse ausgerichtet, also begrenzt ist. Andererseits ist es – ebenso wie der Westen – auf eine funktionierende Weltwirtschaft und ein stabiles internationales System angewiesen. Daraus zu schließen, dass Peking dann eben Russland fallen lassen sollte, ist bestenfalls naiv und schlimmstenfalls ignorant. Naiv, weil das vitale Sicherheitsinteresse an einem relativ stabilen Russland außer Acht gelassen würde, und ignorant, weil es die chinesischen Mittel zur Unterstützung Russlands unterschätzen und die des Westens, diese zu konterkarieren, überschätzen würde.Realistisch und kreativDeutschland und Europa sollten alles daransetzen, dass die globale amerikanisch-chinesische Rivalität nicht voll auf den Ukrainekrieg durchschlägt, sondern Pekings vitales Interesse an der Verhinderung einer Niederlage Moskaus für eine Konfliktregelung genutzt wird. Da Moskau und Kiew auf Sieg setzen, muss der Druck zu verhandeln von außen kommen.Noch liefert China keine Waffen an Russland. Noch existiert kein Verteidigungsabkommen zwischen beiden Staaten. Noch hat Peking die annektierten ukrainischen Gebiete nicht anerkannt. Noch gibt es die Chance, Pekings Friedensinitiative aufzugreifen und zu testen, was davon als Ausgangspunkt für einen Waffenstillstand und eine spätere Friedensregelung nutzbar zu machen ist. Dafür braucht es Diplomatie, Kreativität und ein sich auf Realitäten stützendes Urteilsvermögen Und es braucht China, denn wer hat größeren Einfluss auf Russland?