Während russische Truppen seit Wochen versuchen, die hart umkämpfte ukrainische Stadt Bachmut einzunehmen, drehte sich die Eskalationsspirale in den vergangenen Tagen unvermindert weiter. Vor einer Woche beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU, für die Ukraine eine Million Artilleriegeschosse beschaffen zu wollen. Die Slowakei begann mit der Lieferung von MIG-29-Kampfjets, Deutschland von Leopard-2-Panzern. Großbritannien erklärte, mit abgereichertem Uran versehene panzerbrechende Waffen schicken zu wollen.
Präsident Wladimir Putin wiederum setzte einen drauf: Er kündigte seinerseits die Stationierung taktischer Atomwaffen im Nachbarland Belarus an. Vor Kurzem hatte Moskau bereits seine Beteiligung am New-START-Vertrag – dem letzten strategischen Rüstungskontrollabkommen zwischen den USA und Russland – und am Wiener Dokument, einem Mechanismus für Vertrauensbildung und Sicherheit in Europa, ausgesetzt. Und Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates in Moskau, erklärte mit Nachdruck, sein Land werde jeden Versuch, die Krim zu erobern, mit dem Einsatz von Kernwaffen beantworten.
Offiziell präsentiert Putin die Dislozierung in Weißrussland als Antwort auf die seit Jahrzehnten in Deutschland, Belgien, Italien, den Niederlanden und der Türkei lagernden US-Atomwaffen und als Schutz für das an drei NATO-Mitglieder grenzende Belarus. Tatsächlich ist die Maßnahme wohl eher als Drohung gegen die wachsende militärische Unterstützung der Ukraine durch den Westen und die Absicht Kiews gedacht, die Krim zurückzuerobern. Wie dem auch sei, Moskau verschafft sich neue militärische Optionen für das Schlachtfeld und einen zusätzlichen Verhandlungschip für die angestrebte Neuordnung Europas.
Die technischen Voraussetzungen für das Lagern von Sprengköpfen sollen bis zum 1. Juli 2023 vorhanden sein. Damit schließt sich der Kreis zu den bereits im Nachbarland befindlichen Trägersystemen wie atomwaffenfähigen Flugzeugen, Raketen und Artillerie. Nach der russischen Nukleardoktrin sind taktische Atomwaffen integraler Bestandteil der Verteidigung, sollte es zu einem Angriff mit Massenvernichtungswaffen kommen oder einen die staatliche Existenz bedrohenden konventionellen Angriff geben. Bislang hatte Russland alle taktischen Nuklearwaffen auf seinem Territorium stationiert. Das ändert sich nun.
Die westliche Reaktion beschränkt sich bislang auf das Abwiegeln und ein „Weiter-so“. Washington beschwichtigt, es lägen keine Hinweise auf die Vorbereitung eines russischen Nuklearschlags vor. Berlin verurteilt den „Versuch nuklearer Einschüchterung“ und nennt den russischen Vergleich mit den taktischen Kernwaffen der USA in Europa „irreführend“. Als ob es darauf ankäme! Wichtiger ist doch wohl, dass Moskau sich eine weitere nukleare Option geschaffen hat. Es könnte diese nun vom Nachbarland aus nutzen in der Hoffnung, dass sein eigenes Territorium von möglichen Gegenmaßnahmen verschont bleibt. Dadurch sinkt die Schwelle für den Einsatz taktischer Atomwaffen.
Für viele Experten mag die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Eskalation noch immer gering sein. Dass sie mit der Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus aber weniger gering wird, können auch sie nicht ernsthaft bestreiten. Darum ist es höchste Zeit, das Schlafwandeln in Richtung Abgrund zu beenden.
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