Die durch COVID-19 verursachte dramatische Lage hat führende Politiker in China, den USA, Frankreich und anderswo zu dem Befund veranlasst, wir stünden im Krieg gegen das Coronavirus. Andere, wie die deutsche Kanzlerin, reagierten besonnener und beschreiben die Lage als große Herausforderung, vielleicht die größte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Gleichwohl: Wir führen keinen Krieg gegen das Virus!
Legt man die Definition des Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz zugrunde, dann kennzeichnen drei Charakteristika das Wesen des Krieges. Zum einen Hass und Feindschaft, „die wie ein blinder Naturtrieb anzusehen sind“. Zum Zweiten die Anwendung kollektiver militärischer Gewalt. Drittens der politische Zweck, der jedem Krieg innewohnt.
Natürlich gibt es auch andere Definitionen, doch die meisten sind sich darin einig, dass es immer um interaktive kollektive Gewaltanwendung und einen Zweck geht. COVID-19 führt zwar zu Leid und Tod, wird aber weder von Hass noch von einem politischen Zweck angetrieben.
Sogar Christian Drosten
Sollte der Begriff Krieg bloß als Metapher benutzt worden sein, um das Dramatische zu betonen, so wäre das vielleicht noch verständlich. Es bleibt jedoch problematisch, weil dies gefährlicher Fehldeutung und einem Missbrauch Tür und Tor öffnet. So fabulieren angesichts unerlässlicher Beschränkungen, die das Ziel haben, die Ausdehnung der Pandemie zu begrenzen, einige unreflektiert von einem „Ausnahmezustand“. Dieser Begriff ist eng verbunden mit Krieg und mit einem staatsgefährdenden Notstand. Er berechtigt den Staat zu außerordentlichen Maßnahmen zum Zweck der Gefahrenabwehr. Früher wurde der Ausnahmezustand zunächst auf äußere Bedrohungen beschränkt. Dann galt das Kriegsrecht oder der Belagerungszustand. Später wurde er auch auf Notlagen im Inneren wie Aufstände und Naturkatastrophen angewendet. In Anlehnung an das römische Recht kann der Ausnahmezustand als Diktatur bezeichnet werden. Dabei ist zwischen verfassungsgemäßer befristeter Diktatur und einer unbefristeten Diktatur zu unterscheiden, bei der die Verfassung oder wesentliche Elemente dauerhaft suspendiert sind, wie nach Hitlers Reichstagsbrandverordnung vom Februar 1933. Die zweite Variante entspricht einem permanenten Ausnahmezustand.
Deutschland befindet sich aber nicht im Ausnahmezustand, auch wenn dieser Begriff mittlerweile oft zu lesen ist. Selbst der sonst so zurückhaltend argumentierende Virologe Christian Drosten sprach bei Zeit Online davon, „dass wir gesellschaftlich ein Jahr im Ausnahmezustand verbringen müssen“. Doch kann der Staat das Grundgesetz nicht aussetzen. Die einst heftig umstrittene Notstandsverfassung von 1968 hat vielmehr den Zweck, die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Falle eines äußeren oder inneren Notstands zu schützen. Allerdings haben die zuständigen staatlichen Institutionen derzeit das Grundrecht der Freiheit der Person nach Artikel 2 Grundgesetz (GG) und der Bewegungsfreiheit nach Artikel 104 GG oder der Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 GG eingeschränkt, um die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen, legitimiert durch das Infektionsschutzgesetz vom 1. Januar 2001. Ob das als juristische Grundlage ausreicht, ist umstritten. Der in der Vorwoche vorgelegte Änderungsentwurf wurde zu Recht als „Hindenburg-Klausel“ kritisiert. Er hätte den Bund ermächtigt, ein Gesetz ohne die Zustimmung des Bundestages oder Bundesrats per Rechtsverordnung zu ändern. Dieser Passus ist in der Endfassung revidiert worden.
US-Notstand bis heute
Wichtig ist, dass staatliche Institutionen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten und nicht nach der utilitaristischen Devise „Der Zweck heiligt die Mittel“ handeln. Daher ist es unabdingbar, die besonderen Maßnahmen zeitlich zu befristen.
Da die Pandemie möglicherweise lange anhält, ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass beschlossene Sondermaßnahmen partiell zum Normalzustand werden. Dass so etwas möglich ist, bezeugen drei Beispiele.
So ist der nach den Anschlägen vom 11. September 2001 durch Präsident George W. Bush für die USA verkündete Ausnahmezustand bis heute in Kraft. Er wurde Jahr für Jahr mit der Begründung verlängert, die Bedrohung halte weiter an, die ergriffenen Maßnahmen seien notwendig. Am 14. September 2001 erklärte der NATO-Rat, dass der Al-Qaida-Angriff auf die USA als Angriff auf alle Bündnismitglieder angesehen werde, und aktivierte erstmals in der NATO-Geschichte die Beistandspflicht nach Artikel 5. Diese Aktivierung gilt bis heute, obwohl die USA dabei sind, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. Schließlich verhängte die französische Regierung im November 2015 nach der Terrornacht von Paris zunächst für zwölf Tage den Notstand, der dann bis Ende 2017 Bestand hatte. Anschließend überführte das Parlament bedeutende Teile, darunter extensive Überwachungsmaßnahmen, per Gesetz in nationales Recht.
All diese außergewöhnlichen Maßnahmen wurden mit der Bedrohung durch den Terrorismus gerechtfertigt. Der sogenannte „Krieg gegen das Virus“ wird ebenfalls mit Unterstützung des Militärs geführt, etwa für logistische Aufgaben wie in Frankreich, wo schwerkranke Patienten in andere Hospitäler geflogen werden, weil medizinische Kapazitäten vor Ort erschöpft sind. Die Bundeswehr stellt Militärkrankenhäuser und medizinisches Personal zur Verfügung oder besorgt dringend benötigtes medizinisches Material. Das ist hilfreich in dieser Krise, hat aber nichts mit einem Ausnahmezustand zu tun, sondern ist Amtshilfe nach Artikel 35 GG. Kriegsrhetorik ist also unangebracht.
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung die Furcht geäußert, dass der Ausnahmezustand, auf den uns staatliche Autoritäten seit einiger Zeit einstimmen, zum Normalzustand werden könnte. In Ungarn, Polen und Israel versuchen die Regierungen bereits, die Krise zu nutzen, um ihre Macht zu stärken. So weit wird es in Deutschland nicht kommen, nur dürfte auch bei uns die Welt nach COVID-19 eine andere sein als zuvor.
Insofern sind zwei Aufgaben unerlässlich: Wir müssen erstens darauf achten, dass der Staat handlungsfähig bleibt, ohne unsere Freiheit im Namen der Sicherheit dauerhaft über Gebühr einzuschränken. Die Corona-Krise legt offen, wie sehr unser auf Profit und höchste Effizienz getrimmtes Gesundheitswesen auf Kante genäht ist. Wir müssen also zweitens dringend darüber nachdenken, wie wir das ändern, um eine solidarische und gerechte Gesellschaft zu gewährleisten.
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